Die Seele der Nacht
es in das Früchtemus und begann zu essen. Sie hörte Wurglucks Stimme, seine Worte drangen jedoch nicht bis in ihr Bewusstsein. Dann sprach Céredas. Schon allein der Klang jagte ihr heiße Wellen durch den Leib. Ein wenig unwillig schüttelte sie den Kopf. Was ging da in ihr vor? Mit jedem Tag dachte sie mehr an den ihr noch immer so fremden Jäger. Nachts hörte sie seine Stimme und glaubte seine Hände auf ihrer Haut zu fühlen.
Er ist ein guter Gefährte und ein treuer Freund, versuchte sie diese neuen Gefühle zu rechtfertigen. Und er ist so anders als die jungen Blauschopfmänner.
Um ihre Gedanken von Céredas abzuwenden, beobachtete sie Aylana, die drüben am Ofen saß. Das Strahlen auf ihrem Antlitz war erloschen, das Lächeln verschwunden. Stattdessen presste sie die Lippen fest aufeinander. Es schien, als habe ein Schatten ihr Gesicht verdunkelt. Drückte eine schwere Last auf ihre Seele? Was war geschehen? War sie dem Schattenlord während ihrer Flucht in die Hände gefallen? Dass sie keine Angst vor ihm empfand, hieß nicht, dass er ihr nichts antun konnte. Aber wie hätte sie ihm lebend entkommen können? Nein, das war sicher nicht möglich, sagte sich Tahâma. Ihre Ahnungen spielten ihr da einen Streich. Und doch – etwas war vorgefallen und verdüsterte nun das Gemüt dieser mutigen Frau.
Aylana hob plötzlich den Kopf. Vielleicht hatte sie den prüfenden Blick gespürt. Die Schatten verflogen, und ein Lächeln erhellte nun wieder ihr Gesicht. »Sollten wir nach diesen aufregenden Stunden nicht ein wenig schlafen? Der Morgen ist nicht mehr fern.«
Obwohl ihre Körper nach Ruhe verlangten, stimmten die Gäste nur zögernd zu. Kurz darauf hatten sie mit Aylanas Hilfe das Lager auf dem Boden gerichtet und krochen unter die weichen Decken. Das Licht erlosch. Nur noch die Glut im Kamin verbreitete einen sanften roten Schimmer.
Tahâma schloss die Augen. Wieder sah sie das Gesicht des Jägers vor sich. Er lag auf dem Lager neben ihr. Wenn sie den Arm ausstrecken würde, könnte sie ihn berühren. Ihre Finger zuckten. Was würde er sagen, wenn sie sich zu dieser Unschicklichkeit hinreißen ließe?
Vielleicht lag er in diesem Moment auch wach und lauschte den glühenden Wünschen in seinem Innern. Unsinn, dachte sie dann. Er war ihr vielleicht für seine Rettung dankbar, aber mehr konnte es nicht sein. Keine Regung hatte sie vorhin in seinem Gesicht gesehen. Warum schließlich hatte er nur Wurgluck umarmt, wenn er mehr als Freundschaft für sie empfand?
Aber all diese Gedanken, mit denen sie sich abzukühlen versuchte, halfen wenig. Sie fühlte ja, dass er wach neben ihr lag. Wieder zuckten ihre Finger, doch sie umschloss sie mit der anderen Hand. Er würde diese Geste für Mitleid halten, für Schwäche. Nein, sie würde ihm zeigen, dass auch in ihr Stolz und Stärke wohnten, und sie würde sich seine Achtung verdienen. Endlich schlief sie ein.
Plötzlich fuhr Tahâma hoch. Sie konnte nicht lange geschlafen haben, denn noch immer war es draußen dunkel. Sie lauschte auf das Knacken im Kamin und auf Wurglucks leise Schnarchtöne. Was hatte sie geweckt? Warum waren ihre Sinne hellwach, obwohl sie so dringend der Ruhe bedurften? Ohne sich zu rühren, lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Etwas beunruhigte sie. Plötzlich wusste sie, was nicht stimmte: Céredas lag nicht mehr neben ihr! Wieder einmal hatte er des Nachts sein Lager verlassen. Ohne weiter nachzudenken, schlüpfte sie unter der Decke hervor und schlich zur Tür. Sie öffnete sie geräuschlos und huschte hinaus.
Es war die Stunde, in der der Nachthimmel seine Schwärze verliert, um sich dem ersten Grau des Morgens hinzugeben. Tahâma atmete die kühle Nachtluft ein. Sie war rein und frisch. Nichts Böses schwang in ihr. Lautlos wanderte sie mit nackten Füßen über das taubedeckte Gras, bis sie die Umrisse des Jägers deutlich vor sich sah. Er lehnte am Stamm der Eiche und blickte nach Osten, so als könne er die Ankunft der Sonne nicht mehr erwarten. Sie trat zu ihm. Er wandte nicht einmal den Kopf, aber sie wusste, dass er sie bemerkt hatte.
»Warum schläfst du nicht?«, fragte sie nach einer Weile leise.
»Seltsame Dinge gehen vor«, antwortete er, ohne sie anzusehen.
»Ja, seltsame Dinge, in der Tat«, sagte sie und nickte, obwohl sie sicher war, dass sie nicht dasselbe meinten.
»Ich habe dir noch nicht für meine Rettung gedankt«, sagte er steif. Nun endlich sah er ihr in die Augen. »Warum hast du das
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