Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
Vom Netzwerk:
gedrückt. Sie sang und beschwor die Kräfte des Steines. Er regte sich. Sie spürte eine Hitze, die ihr beinahe die Haut versengte. Er erwachte. Eine kleine rote Flamme spiegelte sich in den Kristallflächen. Wenn sie beide Steine hätte, dachte sie auf einmal, könnte sie vielleicht gegen den Lord bestehen.
    »Gebt mir die zweite Hälfte von Krísodul, dann werde ich gehen und Euch nicht wieder behelligen, Großvater.«
    Er lachte, doch Unsicherheit schwang in seiner Stimme. »Du bist verrückt, Mädchen. Du wirst in einem Flammensturm verglühen, wenn ich es befehle.«
    Der Stein in ihrer Hand vibrierte. Ein tiefes Summen drang aus seiner Tiefe, nein, es kam aus ihr selbst. Sie öffnete den Mund und ließ die Töne entweichen. Was war es, das den Stein zum Leben erweckt hatte und ihn führte? Ihr blieb nichts zu tun, als ihre Hände fest um ihn zu legen, damit er nicht zu Boden fiel, und sich dem scharfen Rhythmus zu ergeben, der aus ihr erklang. Flammen züngelten aus dem Kristall hervor, rote und blaue. Sie stoben hoch bis zur Decke, wanden sich in einem zuckenden Tanz umeinander und verschmolzen dann zu dunklem Violett.
    »Gib ihn her!«, schrie der Alte mit verzerrten Zügen und richtete seinen Stab auf Tahâma.
    Nun begann auch er Töne auszustoßen. Grell und schmerzhaft hallten sie ihr in den Ohren. Weißblau schoss der Strahl hervor, doch er prallte gegen die violette Flammenwand, die unvermittelt aufloderte, und zerstob in tausend Funken. Centhân stieß einen Schmerzensschrei aus. Noch einmal reckte er den Stein vor, um Tahâma zu vernichten. Aber auch dieses Mal schützte sie die Macht der zweiten Hälfte. Wieder verbanden sich die beiden Strahlen. Sie rangen miteinander und wanden sich, doch sie konnten einander nicht besiegen. Der Stab in Centhâns Hand glühte für einen Augenblick auf und zerbarst in einer Explosion, die den Boden erzittern ließ. Feine Asche rieselte herab, der blaue Stein fiel zu Boden, rollte ein Stück auf Tahâma zu und blieb dann unruhig flackernd liegen.
    Mit zwei schnellen Schritten hatte Tahâma ihn erreicht, bückte sich und ließ ihn in ihre Tasche gleiten. Der alte Mann schrie auf, aber sie beachtete ihn nicht mehr. Sie steckte auch den zweiten Stein ein, eilte zur Tür, riss sie auf und rannte die Galerie entlang bis zur Treppe.
    Tahâma hatte die ersten Stufen schon erreicht, als Centhân im Türrahmen erschien und nach den Wachen rief. Mit Hellebarden und kurzen Säbeln bewaffnet, kamen sie von allen Seiten. »Du meinst, du hast mich besiegt?«, schrie der alte Mann ihr nach. »Du irrst dich. Glaubst du wirklich, meine Macht wäre an diesen Stein gebunden?«
    Tahâma hörte nicht auf ihn. Sie lief, so schnell sie konnte. Sie hörte die Melodie in sich klingen und konzentrierte sich darauf, das Tor vor ihren Verfolgern zu erreichen. So schnell war sie noch nie gelaufen, und dennoch blieb ihr Atem ruhig. Die Wachen hinter ihr fielen bald schon zurück. Die Gassen waren dunkel und leer. Sie war so in Eile, dass es ihr erst nicht auffiel. Aus den Augenwinkeln nahm sie die Gruppen von Wächtern wahr, die sich auf den Mauern zusammengeschart hatten und aufgeregt miteinander sprachen. Ängstliche Rufe drangen an ihr Ohr. Sie gelangte an das Stadttor, aber niemand versuchte sie aufzuhalten. Die schweren Flügel schwangen auf, und Tahâma lief in die Nacht hinaus. Hastig warf sie einen Blick zurück, niemand folgte ihr. Die Wächter liefen zum Palast. Finster lag die Stadt da, das blaue Leuchten war erloschen.
    Für einen Moment hielt Tahâma inne. Sie hatte die Stadt ihres Schutzes beraubt. Wie viele Männer und Frauen würden nun unter dem Atem des Schattenlords ihr Leben lassen müssen? Zweifel nagten an ihr. Tat sie das Richtige? Hatte sie eine Chance, dem Spuk ein Ende zu setzen, oder würde sie alles noch schlimmer machen? Sie fühlte die beiden Steine in ihrer Tasche und dachte an die Worte ihres Vaters:
    »Du bist stark im Willen und voll Zuversicht im Herzen. Du bist begabt, die Vorsehung hat dich auserwählt. Glaube an dich, so wie ich es tue. Verwende Krísodul klug und erinnere dich stets an die Melodien, die ich dich gelehrt habe. In Melodie, Harmonie und Rhythmus liegt die Kraft, das darfst du nie vergessen. Der Stein wird dir helfen, deinen Weg zu finden.«
    Mit freudigem Wiehern galoppierte die Stute heran. Wurgluck hing auf ihrem Hals und krallte sich in der Mähne fest. Als das Pferd vor Tahâma anhielt, sah sie, wie der Erdgnom zitterte, doch seine Augen

Weitere Kostenlose Bücher