Die Seele der Nacht
hervor: »Was soll ich tun?«
»Ich brauche deinen Mantel, das ist alles.« Tahâma hob den langen, silberfarbenen Kapuzenumhang mit der blauen Flamme auf dem Rücken auf. »Die Wachen sollen mich für dich halten. Ich denke, sie werden mich nicht so genau betrachten, wenn sie das Zeichen des Weisen sehen.«
Lonathâ nickte. Sie schien erleichtert, dass die Freundin ihr nicht mehr abverlangte. »Eines solltest du noch wissen«, fügte sie hinzu. »Dein Großvater hat die Heimat nicht freiwillig verlassen.«
Tahâma runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Ich habe vor vielen Jahren einmal gehört, wie dein Vater mit Thurugea über ihn sprach. Irgendetwas Ungeheuerliches ist damals vorgefallen. Thurugea und Granho riefen eine Versammlung der Ältesten ein, was über einhundert Jahre nicht mehr vorgekommen war. Sie beschlossen, deinen Großvater für immer aus dem Tal zu verbannen.«
»Aber warum? Hast du eine Idee, was passiert sein könnte?«
Lonathâ schüttelte den Kopf. »Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht – vor allem, seit ich hier in seiner Stadt lebe. Er ist ungewöhnlich begabt, findest du nicht?«
»Ja, und ungewöhnlich mächtig«, fügte Tahâma nachdenklich hinzu. »Warum hast du mir das erzählt?«
Lonathâ griff nach ihren Händen. »Ich will dich warnen. Du bist meine Freundin, und ich wäre untröstlich, wenn dir etwas zustieße. Sei wachsam und hoffe nicht auf väterliche Gefühle in seiner Brust!«
»Ich behalte deine Worte im Gedächtnis«, sagte Tahâma. »Wenn das Tageslicht sich zu trüben beginnt, werde ich mein Glück versuchen.«
»Du wirst ihn zu dieser Zeit allein in seinem Gemach im ersten Stock finden. Es ist die silberne Flammentür direkt neben dem Treppenaufgang.« Lonathâ spähte durch die Zweige. »Ich sollte gehen. Die Männer scheinen sich geeinigt zu haben.«
Tahâma umarmte sie. »Wird dich Andrejow nicht fragen, wo du deinen Mantel gelassen hast?«
Lonathâ lachte leise. »Er wird es nicht bemerken. Er ist ein Mann!«
Rasch trat sie hinter dem Busch hervor und ging den Männern entgegen, die noch immer heftig gestikulierend über ihr Projekt sprachen.
Lautlos zog sich Tahâma zurück. Im Unterholz wartete Wurgluck mit der Stute auf sie. Sie waren beide nervös, aber sie wechselten kaum ein Wort, während sie zusahen, wie der Nachmittag verstrich. Als sich die Sonne den Baumwipfeln näherte, führte Tahâma die Stute so nah an die Stadt heran, wie die Bäume ihnen Deckung boten. Dann beobachteten sie die Stadttore.
Die Wachen wurden abgelöst. Ein Zug von Bauern näherte sich, von ihrem Tagwerk auf den Feldern zurückkehrend, ein Karren mit Handelsware rollte heran. Von der anderen Seite trabten drei hochgewachsene Reiter mit dem Wappen Nazakenins auf das Tor zu. Nun war der richtige Zeitpunkt gekommen. Tahâma hüllte sich in den fast bodenlangen Umhang und zog die Kapuze über den Kopf. Stumm drückte sie die kleine Hand des Erdgnoms, die sich wie eine Ansammlung trockener Zweige anfühlte.
»Ich werde hier warten«, sagte er. Besorgnis schwang in seiner Stimme. »Ich traue dem Alten nicht. Er ist verschlagen, also sieh dich vor!«
»Keine Sorge, lieber Wurgluck, ich passe schon auf mich auf.«
»Sonst werde ich diese Mauern einreißen und dich aus dem Verlies holen«, knurrte er. »Und wenn sich mir hundert Weise mit ihren Kristallen entgegenstellen!«
Tahâma lächelte. »Das wird nicht nötig sein.«
Mit schnellen Schritten ging sie auf den Händlerkarren zu und folgte ihm, den Kopf ein wenig gesenkt, bis zum Tor. Die Wachen hielten den Kaufmann an, fragten, wo er herkomme, und prüften den Inhalt des Wagens. Tahâma schenkten sie nur eine höfliche Verbeugung. Das Mädchen neigte den Kopf noch ein wenig tiefer zum Gruß und schritt dann rasch an ihnen vorbei. Die erste Hürde war genommen. Nun musste sie noch in den Palast hineinkommen.
Niemand nahm Notiz von ihr, wie sie durch die Gassen ging und dann den Platz am Fuß der Felswand überquerte. Doch ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie im Dämmerlicht die Treppe zum Tor hochstieg. Eine blaue Haarsträhne löste sich und ringelte sich über ihre Brust. Ich bin Lonathâ, sagte sie sich in Gedanken vor, ich gehöre hierher.
Eine unsichtbare Hand zog den Türflügel auf. Die uniformierte Gestalt verbeugte sich. »Einen guten Abend, Dame Lonathâ, der Weise erwartet Euch in seinem Gemach.«
»Danke«, murmelte Tahâma und zwang sich, gemessenen Schrittes die Treppe emporzusteigen. Stumm
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