Die Seele der Nacht
dankte sie noch einmal der Freundin, dann klopfte sie an die silberne Tür und trat ein.
Die Pracht des riesigen Raumes ließ sie für einen Moment erstarren. Welche Schätze! Was für ein verschwenderischer Reichtum! Nach dem, was sie bisher von diesem Land kennen gelernt hatte, hätte sie nicht für möglich gehalten, dass es in ganz Nazagur so viel Gold, Silber und Edelsteine gab, wie sie nun hier in einem einzigen Raum vor sich sah.
Centhân da Senetas hatte auf einem prächtigen Samtdiwan geruht. Jetzt erhob er sich und kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Lonathâ, meine Liebe, du wolltest mit mir sprechen? Setz dich doch zu mir und trink von dieser wundervollen süßen Schokolade, die aus einem Land weit im Süden kommt.«
Tahâma warf die Kapuze zurück. »Ich bin zwar nicht Lonathâ, aber mit Euch sprechen will ich auch.«
Der Weise blieb unvermittelt stehen, seine Arme sanken herab. Eine steile Falte bildete sich auf seiner weißen Stirn. »Ein übles Täuschungsmanöver.«
»Lonathâ trifft keine Schuld«, sagte Tahâma schnell. »Ich habe ihr keine Wahl gelassen.«
Centhân nickte. »Ja, das will ich glauben. Warum bist du gekommen? Willst du dich mir zu Füßen werfen, um für deine Sünden um Verzeihung zu bitten?«
»Einem Freund in seiner Not beizustehen ist in meinen Augen keine Sünde«, gab sie kühl zurück. »Außerdem kann man lästerliche Sünden nur einem Gott gegenüber begehen. Ihr seid nur ein Blauschopf wie ich, doch anscheinend habt Ihr das vergessen.«
»Was also willst du von mir?«, fragte er.
»Um Eure Hilfe bitten.«
Die weißen Augenbrauen schoben sich in die Höhe. Langsam ging er zu seinem Diwan zurück und ließ sich in die goldbestickten Kissen sinken. »Setz dich«, sagte er und deutete auf ein Polster zu seinen Füßen.
Tahâma zögerte, ließ sich dann aber mit verschränkten Beinen darauf nieder. Aufmerksam musterte er sie aus seinen tiefblauen Augen.
»Ich habe sie gefunden«, begann Tahâma. »Unser Volk hat sich in einem verlassenen Dorf eineinhalb Tagesritte nordöstlich von hier niedergelassen. Es ist ein schönes Dorf, in dem sie wieder von ihrer Heimat träumen können, von Licht und Luft und Blumengärten. Ein Ort, an dem sie singen und musizieren und die große Sammlung aller Melodien und Rhythmen weiter ausbauen können.« Sie hielt inne. Die Erinnerung griff nach ihr und trieb ihr Tränen in die Augen. Sie blinzelte heftig und richtete dann ihren Blick wieder auf den Großvater, der sie abwartend beobachtete. »Sie könnten dort ihr Glück finden, aber sie sind völlig ohne Schutz. Ich habe es selbst erlebt. Ich war dabei, als die grausamen Schatten der Nacht über sie herfielen. Mehr als ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder fielen ihm in einer einzigen Nacht zum Opfer!«
Vergeblich wartete Tahâma auf eine Reaktion. Der alte Mann schwieg.
»Sie haben begonnen, Palisaden um das Dorf zu ziehen, die werden sie aber nur schützen, wenn sie das blaue Feuer besitzen.« Sie holte den Kristall aus ihrem Beutel. »Ich werde ihnen Krísodul geben, aber sie haben nicht die Kraft, ihn zum Leben zu erwecken. Ihr müsst ihnen helfen. Die Tashan Gonar sind auch Euer Volk!«
Er nickte langsam. »Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Der Stein allein ist nichts. Es bedarf der Hand, die ihn führt. Nur wenn die drei Kräfte zusammenwirken, erwacht er zum Leben.«
»Es gibt Männer und Frauen, die würdig und machtvoll genug sind, den Stein zu tragen: Thurugea und Granho. Sie werden einen neuen Hüter der Melodien bestimmen. Dann sind die Kräfte der Musik wieder vereint und Krísodul wird sein Feuer entzünden.«
Der Weise der Stadt schüttelte den Kopf. »Der Schattenlord würde das nicht hinnehmen. Es hat ihn schon sehr erzürnt, dass ich ihm diese Stadt nahm. Man muss vorsichtig sein und behutsam seine Schar vergrößern.«
Tahâma sprang auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Erzürnt? Was kümmert uns das? Soll er erzürnt sein!«
»Er ist mächtig, sehr mächtig, und seine Kräfte wachsen mit jeder Nacht und jedem Hauch von Todesangst, den er zu sich nimmt.«
Trotzig stampfte sie mit dem Fuß auf. »Mächtig, ja, das mag er sein, aber ist er auch allmächtig?«
Centhân schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Die vereinte Kraft der Musik muss er fürchten.«
»Und die Macht Krísoduls, oder nicht?« Tahâma zog die Augenbrauen zusammen. »Sagt mir, wenn alle drei Kräfte zusammenwirken müssen, wie ist es dann möglich,
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