Die Seele der Nacht
Gedanke, dass die Männer und Frauen in Nazagur nur leben, um ihn und seine Brut zu nähren«, murmelte der Forscher und schüttelte den Kopf. »Eine Nacht nur, dann sind sie für immer vergessen.«
»Ich bleibe bei meinem Plan«, sagte Tahâma. »Wenn Ihr den Weg kennt, dann sagt ihn uns bitte.«
»Niemand sucht nach Tarî-Grôth! Selbst meine Wissbegierde reicht nicht aus, mich an einen solchen Ort zu treiben.«
»Gibt es denn kein Wesen in ganz Nazagur, das uns weiterhelfen kann?«, begehrte Tahâma auf.
Meister Ýven wiegte den Kopf hin und her. »Crachna, die Spinnenfrau, könnt Ihr fragen«, sagte er langsam. »Ihre Augen sehen alles, und in ihren Augen kann man alles sehen.«
Tahâma war es müde, über seine rätselhaften Aussagen nachzudenken. »Und wo finden wir diese Spinnenfrau mit den sehenden Augen?«
»Auf dem Berge Krineb haust sie in einer tiefen Höhle.
Aber noch einen Rat will ich Euch geben. Richtet niemals Fragen an Crachna, wenn sie hungrig ist. Nehmt Fleisch mit für ihre Gier, denn sonst werdet Ihr statt Antworten den Tod in ihren Klauen finden.«
»Eine Spinne, die entweder antwortet oder uns verspeist? Was wird noch alles kommen?«, murmelte der Erdgnom.
Meister Ýven hatte die Worte gehört und sah ihn ernst an. »Crachna ist kein großer Schrecken gegen das, was Euch auf Tarî-Grôth erwartet. Wenn sie Euch bereits ängstigt, kehrt lieber um!«
Vier Tage waren sie nun schon unterwegs. Durch Wälder und über Wiesen waren sie geritten, Dörfer mit verängstigten Bauern hatten sie passiert. Allmählich wurde das Land karger. Immer spärlicher spross Grün zwischen den zerklüfteten Felsen. Die Berge ragten schroff vor ihnen auf, und es schien kein Weg hinaufzuführen, zumindest kein für Pferde gangbarer Pfad.
Tahâma lenkte die Stute nach Westen und ritt am Fuß einer senkrecht aufragenden Wand entlang. Die Felsen, die bis dahin in hellem Grau getönt waren, wurden nun dunkler. Ein blutiges Rot mischte sich mit stumpfem Schwarz. Misslaunig ließ der Erdgnom seinen Blick nach oben wandern. Eine düstere Wolke hing über dem höchsten Gipfel und verhüllte seine Spitze. Rote Blitze zuckten, aber kein Donnergrollen war zu hören. Es war seltsam stickig, als hätte die Luft sich hier unten schon lange nicht mehr bewegt.
»Es würde mich nicht wundern, wenn er direkt dort oben in diesem Inferno seinen Unterschlupf hätte«, murmelte Wurgluck.
Tahâma zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du Recht. Ich meine jedoch, wir sollten Meister Ývens Vorschlag folgen und Crachna um Auskunft bitten.«
»Ich habe nicht vergessen, dass wir auf der Suche nach einer scheußlichen Spinnenfrau sind, die uns entweder Auskünfte gibt oder uns zum Nachtmahl verspeist«, entgegnete der Gnom und seufzte.
Tahâma nickte bedrückt. »Und leider können wir nicht den Rat des Meisters befolgen, sie mit frischem Fleisch zu besänftigen. Wie sollte ich auch ein Tier erjagen? Außerdem habe ich seit vielen Stunden nicht einmal mehr die Spur eines Hasen oder Rehs entdeckt.«
Sie verstummten beide wieder, und eine Weile war nur das Klappern der Hufe zu hören, die sich im Schritt über den felsigen Boden mühten. Die Luft wurde immer stickiger. Sie passierten modernde Tümpel, aus denen übel riechende Dämpfe aufstiegen. Der Boden selbst schien giftigen Rauch auszuatmen. Nun reckten sich auch zu ihrer linken Seite immer höhere Felsen auf, der Grund verengte sich, bis nur noch eine schmale Schlucht übrig blieb. Der graue Himmel wurde schließlich zu einem fernen Band, das den Grund nicht mehr zu erhellen vermochte.
Plötzlich wieherte die Stute und scheute zurück. Ein riesiges Netz, aus schimmernden Fäden kunstvoll gewebt, versperrte ihren Weg. Tahâmas Herz klopfte schneller. Sie glitt vom Pferd und trat näher an das Netz heran. Die Fäden waren nicht sehr dick, aber sie zweifelte, ob sie imstande wäre, sie zu zerreißen.
»Crachna«, rief sie. Die Felswände nahmen ihre Stimme auf und warfen in flinkem Spiel den Schall einander zu. Es dauerte eine ganze Weile, bis er in der Ferne verhallte.
»Wir bevorzugen die Anrede Dame Crachna«, erklang eine hohe Stimme neben ihr. Tahâma fuhr herum. Eine Gestalt löste sich aus einer schmalen Höhle, und sie nahm die Konturen einer hochgewachsenen, schlanken Frau wahr, die langsam auf sie zutrat.
Die Spinnenfrau schien ein seltsames, eng anliegendes Gewand zu tragen. Als sie näher kam, erkannte Tahâma, dass ihr Körper über und über mit feinen,
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