Die Seele des Königs (German Edition)
einen weiteren Verrat zu sterben.
Siris folgte Isa und dem Pferd die bewaldete Bergflanke hoch. Er war überrascht, wie gut das Tier den steilen Anstieg bewältigte; es schien sogar weniger Schwierigkeiten damit zu haben als er selbst. Er musste aufpassen, dass er dem Pferd nicht zu nahe kam, damit es nicht eine kleine Gabe auf ihn fallen ließ. Er war sich immer sicherer, dass es mit seinem Geschäft absichtlich wartete, bis Siris nahe genug herangekommen war.
Die Luft war heiß und schwül, und die Sonne wurde von einem Schleier aus grauen Wolken verdeckt. Allmählich gelangten sie aus den Bergen heraus; der Pass lag hinter ihnen. Hier war das Land sogar noch fruchtbarer als vorhin. Gewaltige Bambuswälder erstreckten sich wie grüne Laken über die gewellten Hügel und Berge. Die hohen, schlanken Pflanzen wirkten beinahe wie der Rasen einer mächtigen Kreatur – was Siris und Isa zu Insekten machte, die zwischen den Grashalmen entlangstapften.
Die Klinge der Unendlichkeit hing in der Scheide über Siris’ Rücken, wohin er sie geschoben hatte, nachdem sie sich mehrfach im Unterholz verfangen hatte. Den Mantel trug er nicht mehr; schon seit Tagen waren sie keiner lebenden Seele begegnet.
Die letzte steile Strecke bis zum nächsten Gipfel kroch er hinauf und zog sich dabei durch das Gras, das feucht vom Tau war. Der Boden roch nach Leben. Wenn die Menschen von Drems Rachen wüssten, dass sie dicht hinter den Bergen dieses Paradies des Wachstums und Leben finden könnten …
Sie würden es nie erfahren. Sie würden ihr Leben mit Sklavenarbeit verbringen, unablässig von der Decke ihrer Höhle hängen, die schnell wachsenden Stalaktiten ernten und die Mineralien als Tributzahlung an den Gottkönig schicken. Siris erreichte den Hügelkamm, richtete sich auf und atmete die dunstige Luft tief ein. Wenn er es schaffte, die Waffe zum Wirker der Geheimnisse zu bringen, würde dies vielleicht dazu führen, dass sein Volk wirkliche Freiheit erlangte.
Das war ein seltsam einschüchternder Gedanke. Obwohl der Gottkönig noch lebte, hatte Siris ihn in einem gerechten Duell besiegt. Er glaubte nicht, dass er nur durch Glück oder durch die Erlaubnis des Gottkönigs gewonnen hatte. Er besaß genug Duellerfahrung, um zu erkennen, wann der Gegner alles gab.
Dieser Sieg, auch wenn er klein war, machte ihn nachdenklich. Konnten sie alle besiegt werden? Konnte sein Volk tatsächlich befreit werden? Er griff über seine Schulter und berührte den Knauf der Klinge der Unsterblichkeit.
Isa stand bereits auf dem Berg und schaute nach rechts auf einen der niedrigeren Gipfel in der Bergkette. Sie schien in Gedanken versunken zu sein.
» Was ist los?«, fragte er.
» Die Wiedergeburtskammer, von der ich dir erzählt habe«, sagte sie und klang dabei, als denke sie über etwas ganz anderes nach, » liegt dort drüben. An den Hängen dieses Berges. Ich bin durch Zufall darauf gestoßen. Ich hatte mich verirrt …«
» Ich dachte, du verirrst dich nie«, sagte er und lächelte.
Sie bemerkte den Spott in seiner Stimme nicht. » Inzwischen nicht mehr. Aber damals ist es mir noch gelegentlich passiert.« Sie schüttelte den Kopf und machte sich an den Abstieg.
Siris ging neben ihr her, statt ihr wie gewohnt zu folgen. Sie sah ihn erstaunt an, aber er wollte nicht mehr andauernd auf das Hinterteil des Pferdes schauen. Dieses Wesen war eindeutig eine Dämonenbrut.
» Wie weit ist es noch?«, fragte er.
» Etwas mehr als eine Tagesreise«, antwortete sie. » Und dann müssen wir uns entscheiden, ob du dich einschleichen oder die Wächter herausfordern willst.«
» Einschleichen?«, fragte er und hob eine Braue. » Hast du schon einmal gehört, wie es klingt, wenn ich mich in meiner Rüstung bewege?«
Sie nickte. » Ich wollte nur …«
» Was?«
» Ihr seid so seltsam. Ihr verkündet offen, dass ihr kämpfen wollt, und dann kämpft ihr.«
» Das ist der Pfad der Ehre und der Zivilisation.«
» Ich frage mich, ob das eines der Mittel ist, mit denen euch die Ewiglichen bei der Stange halten«, sagte Isa. Sie wirkte so zurückhaltend. Sie war geschäftsmäßig und still – nicht kalt, aber sie gab nicht mehr preis, als unbedingt nötig war. Er vermisste die Art, die sie an ihrem ersten gemeinsamen Tag gezeigt hatte.
» Bei der Stange halten?«
» Sicher. Sie überzeugen euch davon, dass es ›ehrenhaft‹ ist, in aller Form zu kämpfen – Mann gegen Mann. Wenn wir uns erheben, dann tun wir das unter lauten und deutlichen
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