Die Seele des Königs (German Edition)
ein Leichtes, damit neue Stempel zu fertigen. Es würde zwar noch immer einige Wochen dauern, aber der größte Teil ihrer Arbeit wäre nicht verloren. Doch wenn diese Platten zerstört wurden …
Gaotona setzte sich auf den üblichen Stuhl und betrachtete die Platten mit lässigem Blick. Bei jemand anderem hätte sie dies als Drohung empfunden. Sieh nur, was ich hier in meinen Händen halte und was ich dir antun könnte . Aber bei Gaotona war es anders. Er war tatsächlich neugierig.
Oder nicht? Wie immer gelang es ihr nicht, ihre Instinkte zu unterdrücken. So gut sie auch sein mochte, jemand anders könnte besser sein. So wie es Onkel Won warnend gesagt hatte. Hatte Gaotona vielleicht die ganze Zeit hindurch den Narren gespielt? Sie hatte das starke Gefühl, dass sie ihrer Einschätzung Gaotonas vertrauen konnte. Aber wenn sie sich irrte, wäre es eine Katastrophe.
Das ist es sowieso , dachte sie. Du hättest schon vor Tagen fliehen sollen .
» Ich verstehe, warum du dich in eine Kriegerin verwandeln willst«, sagte Gaotona und legte die Platte beiseite. » Und das hier verstehe ich ebenfalls. Eine Waldläuferin und Überlebenskünstlerin. Diese Platte sieht sehr vielseitig aus. Und hier haben wir eine Gelehrte. Aber warum? Du bist doch schon eine Gelehrte.«
» Keine Frau kann alles wissen«, sagte Shai. » Für jedes Studium bleibt nur eine begrenzte Zeit. Wenn ich mich mit diesem Wesenspräger stempele, kann ich plötzlich ein Dutzend Sprachen sprechen, von Fen bis Mulla’dil – und sogar ein paar aus Sycla. Ich kenne dann Dutzende verschiedener Kulturen und weiß, wie ich mich in ihnen bewegen kann. Ich kenne die Wissenschaften, die Mathematik und die wesentlichen politischen Fraktionen der ganzen Welt.«
» Ah«, sagte Gaotona nur.
Gib sie mir einfach , dachte sie.
» Aber was ist das hier?«, fragte Gaotona. » Eine Bettlerin? Warum willst du ausgemergelt sein und … die Platte zeigt mir, dass dir die meisten Haare ausfallen werden und deine Haut von Narben entstellt sein wird.«
» Es verändert mein Erscheinungsbild«, sagte Shai. » Und zwar grundlegend. Das ist sehr nützlich.« Sie erwähnte nicht, dass sie in dieser Gestalt auch das Leben auf der Straße und die Möglichkeiten des Überlebens in einer städtischen Unterwelt kannte. Ihre Fähigkeit, Schlösser zu knacken, war auch ohne das Siegel schon recht beachtlich, aber mit ihm war sie unschlagbar darin.
Wenn sie diesen Stempel trug, würde sie vermutlich aus dem kleinen Fenster klettern – dieser Präger schrieb ihre Vergangenheit so um, dass sie viele Jahre Erfahrung als Schlangenfrau besaß – und die fünf Stockwerke hinunter in die Freiheit klettern können.
» Das hätte mir klar sein müssen«, sagte Gaotona. Er hob die letzte Platte an. » Nun bleibt nur noch diese hier – die verblüffendste von allen.«
Shai sagte nichts darauf.
» Kochen«, meinte er. » Arbeit auf dem Bauernhof, Nähen. Eine weitere fremde Identität. Kannst du damit eine einfachere Persönlichkeit nachahmen?«
» Ja.«
Gaotona nickte und legte die Platte wieder ab.
Ehrlichkeit. Er muss meine Ehrlichkeit erkennen. Sie kann nicht gefälscht werden .
» Nein«, sagte Shai und seufzte.
Er sah sie an.
» Das ist … mein letzter Ausweg«, sagte sie. » Ich werde ihn nie benutzen. Er ist einfach nur da – für den Fall, dass ich ihn beschreiten will.«
» Ausweg?«
» Wenn ich diesen Präger je benutzen sollte«, erklärte Shai, » wird er meine Jahre als Fälscherin überschreiben. Alles. Ich werde vergessen, wie die einfachsten Stempel hergestellt werden; ich werde sogar vergessen, dass ich einmal eine Lehre als Fälscherin gemacht habe. Ich werde zu einem ganz gewöhnlichen Menschen werden.«
» Und das willst du?«
» Nein.«
Eine Pause.
» Ja. Vielleicht doch. Ein Teil von mir will es.«
Ehrlichkeit. Sie war so schwierig. Manchmal aber war sie der einzige Weg.
Gelegentlich träumte Shai von einem solchen einfachen Leben. Sie träumte davon auf eine morbide Weise wie jemand, der am Rande einer Klippe steht und sich fragt, wie es wäre, einfach hinunterzuspringen. Die Versuchung ist da, auch wenn sie lächerlich ist.
Ein gewöhnliches Leben. Kein Verstecken, kein Lügen. Sie liebte das, was sie tat. Sie liebte die Erregung, das Gelingen, das Wunder. Aber manchmal … wenn sie in einer Zelle gefangen war oder um ihr Leben lief … manchmal träumte sie von etwas anderem.
» Deine Tante und dein Onkel?«, fragte er. » Onkel Won und Tante
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