Die Seele des Königs (German Edition)
ebenfalls nicht. Er hatte kleine Augen und ein vernarbtes Gesicht. Sie hatte es erwartet. Die Wachen, die bei ihr Dienst getan hatten, waren von den anderen ferngehalten worden, damit sie nicht über ihre Erlebnisse reden konnten.
» Oh«, sagte Shai verlegen. » Es tut mir leid, Wächter, aber ich bin erst heute Morgen zu dieser Arbeit eingeteilt worden.« Sie errötete und fischte aus ihrer Tasche ein Rechteck aus dickem Papier, das Gaotonas Siegel und Unterschrift trug. Sie hatte beides auf die altmodische Art gefälscht. Es war ihr sehr entgegengekommen, als der Schlichter ihr von den Sicherheitsvorkehrungen vor den kaiserlichen Gemächern berichtet hatte.
Sie wurde ohne weitere Schwierigkeiten hindurchgelassen. Die nächsten drei Räume der ausgedehnten Gemächer waren leer. An ihrem Ende befand sich eine verschlossene Tür. Sie musste das Holz dieser Tür fälschen, sodass es von Insekten zerfressen war – dazu benutzte sie denselben Stempel, der auch ihr Bett umgewandelt hatte. Es würde nicht lange halten, aber ihr reichten einige Sekunden, um die Tür aufzutreten.
Dahinter lag das Schlafgemach des Kaisers. Es war der Ort, zu dem sie an jenem ersten Tag geführt worden war, als man ihr dieses Angebot gemacht hatte. Der Raum war leer – bis auf denjenigen, der in dem Bett lag. Er war wach und starrte die Decke mit leerem Blick an.
Es war still im Zimmer. Sehr still. Es roch … zu sauber. Zu weiß. Wie eine leere Leinwand.
Shai trat an die Seite des Bettes. Ashravan sah sie nicht an. Seine Augen bewegten sich nicht. Sie legte ihm die Finger auf die Schulter. Er hatte ein hübsches Gesicht, auch wenn er fünfzehn Jahre älter als sie war. Das war nicht viel für einen Erhabenen; sie lebten länger als die meisten anderen Menschen.
Trotz all der Zeit, die er im Bett verbracht hatte, zeugte sein Gesicht noch immer von Stärke. Das Haar war golden, das Kinn fest, die Nase ragte hervor. Diese Gesichtszüge waren so anders als die von Shais Volk.
» Ich kenne deine Seele«, sagte Shai leise und sanft. » Ich kenne sie besser, als du sie je gekannt hast.«
Noch immer kein Alarm. Shai erwartete ihn jeden Augenblick; trotzdem kniete sie neben dem Bett nieder. » Ich wünschte, ich könnte dich kennenlernen. Nicht deine Seele, sondern dich selbst. Ich habe über dich gelesen; ich habe in dein Herz gesehen. Ich habe deine Seele wiederhergestellt, so gut es mir möglich war. Aber das ist nicht dasselbe. Es bedeutet nicht, dass man jemanden wirklich kennt, nicht wahr? Man weiß lediglich etwas über ihn.«
War das ein Schrei da draußen, in einem ferngelegenen Teil des Palastes?
» Ich erbitte mir nicht viel von dir«, sagte sie leise. » Nur dass du lebst. Nur dass du existierst . Ich habe getan, was ich konnte. Sorge dafür, dass es ausreicht.«
Sie holte tief Luft, öffnete das Kästchen und nahm den kaiserlichen Wesenspräger heraus. Sie benetzte ihn mit Tinte, zog das Hemd des Kaisers hoch und legte den Oberarm frei.
Shai zögerte kurz, dann drückte sie den Stempel gegen die Haut. Er traf auf das Fleisch, erstarrte einen Augenblick, wie es die Stempel immer taten. Haut und Muskeln gaben erst eine Sekunde später nach, als der Stempel um Haaresbreite einsank .
Sie drehte den Stempel, bis er arretierte, dann zog sie ihn zurück. Das hellrote Siegel glänzte schwach.
Ashravan blinzelte.
Shai sprang hoch und trat zurück, als er sich aufrichtete und umschaute. Stumm zählte sie die Sekunden.
» Meine Gemächer«, sagte Ashravan. » Was ist passiert? Es hat ein Attentat gegeben. Ich wurde … ich wurde verwundet. O Mutter des Lichts! Kurshina. Sie ist tot.«
Sein Gesicht wurde zu einer Maske der Trauer, die er aber schon in der nächsten Sekunde verbarg. Er war der Kaiser. Er mochte launisch sein, aber solange er nicht erzürnt war, war er gut darin, seine Gefühle zu verstecken. Er drehte sich zu ihr um, und lebendige Augen – Augen, die sahen – richteten sich auf sie. » Wer bist du?«
Diese Frage drang bis in ihr Innerstes, obwohl Shai sie erwartet hatte.
» Ich bin eine Art Arzt«, sagte sie. » Ihr wurdet schwer verwundet. Ich habe Euch geheilt. Aber die Mittel, die ich dazu eingesetzt habe, werden von einigen Teilen Eurer Kultur als … widerwärtig angesehen.«
» Du bist eine Neusieglerin«, sagte er. » Eine … eine Fälscherin?«
» In gewisser Weise«, gab Shai zu. Er würde es glauben, weil er es glauben wollte. » Es war ein sehr schwieriges Neusiegeln. Ihr werdet jeden Tag
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