Die Seele des Königs (German Edition)
nicht die Greifer«, sagte Shai, nachdem sie den Brief gelesen hatte. » Er nennt sie jedenfalls nicht.«
» Aber warum will er Haare haben?«, fragte Yil. » Und Fingernägel?«
» Mit Teilen von dir können sie gewisse Dinge machen«, sagte Hurli und fluchte noch einmal. » Du siehst doch, was er mit Shais Blut jeden Tag an der Tür anrichtet.«
» Ich weiß nicht, ob er mit Haaren oder Fingernägeln viel anfangen kann«, sagte Shai skeptisch. » Das ist nur Angeberei. Das Blut muss frisch sein, höchstens einen Tag alt, wenn es an seinen Stempeln wirken soll. Er prahlt bloß vor seinem Bruder.«
» So etwas sollte er nicht tun«, sagte Hurli.
» Ich würde mir keine Gedanken darüber machen«, meinte Shai.
Die anderen beiden sahen sich an. Nach wenigen Minuten fand der Wachwechsel statt. Hurli und Yil gingen und unterhielten sich dabei murmelnd; der Brief steckte in Hurlis Tasche. Sie würden den Blutsiegler nicht schwer verletzen. Aber sie würden ihm drohen.
Es war bekannt, dass der Blutsiegler jeden Abend die Teehäuser in der Umgebung besuchte. Der Mann tat ihr schon fast leid. Sie hatte herausgefunden, dass er pünktlich bei ihrer Tür erschien, wenn er Post von Zuhause erhalten hatte. Manchmal wirkte er dann aufgeregt. Wenn er keine Post erhielt, trank er. Heute Morgen hatte er traurig ausgesehen. Offenbar hatte er schon seit einer Weile keine Nachrichten mehr bekommen.
Was ihm heute Nacht zustoßen würde, machte seinen morgigen Tag auch nicht gerade besser. Ja, er tat Shai beinahe leid, doch dann erinnerte sie sich an das Siegel an der Tür und an den Verband, den sie sich heute angelegt hatte, nachdem er sie zur Ader gelassen hatte.
Sobald der Wachwechsel vollzogen war, holte Shai tief Luft und vergrub sich wieder in ihrer Arbeit.
Heute Nacht. Heute Nacht würde sie fertig werden.
TAG ACHTUNDNEUNZIG
S hai kniete auf dem Boden inmitten eines Musters aus verstreuten Blättern, die allesamt eng beschrieben oder mit Zeichnungen von Siegeln versehen waren. Hinter ihr öffnete der Morgen die Augen, und Sonnenlicht drang durch das Bleiglasfenster und tauchte den Raum in Scharlachrot, Blau und Violett.
Ein einziger Seelenstempel, geschnitzt aus poliertem Stein, stand mit der Prägefläche nach unten auf einer Metallplatte vor ihr. Seelenstein war als Gesteinsart dem Speckstein oder anderen feinkörnigen Steinen nicht unähnlich, doch es war ein wenig Rot in ihn gemischt. Als ob Bluttropfen ihn befleckt hätten.
Shai blinzelte mit müden Augen. Wollte sie wirklich einen Fluchtversuch unternehmen? Wie viele Stunden hatte sie in den letzten drei Tagen geschlafen? Vier?
Die Flucht konnte noch ein wenig warten. Sicherlich blieb genug Zeit, sich auszuruhen – heute zumindest.
Ausruhen , dachte sie benommen, und nicht wieder aufwachen .
Sie verharrte in kniender Haltung. Der Stempel schien ihr das Schönste zu sein, was sie je gesehen hatte.
Ihre Ahnen hatten Felsen angebetet, die nachts vom Himmel fielen. Diese Brocken hatten sie als die Seelen gebrochener Götter bezeichnet. Steinmetzmeister hatten sie behauen und die in ihnen schlummernde Form herausgearbeitet. Damals hatte Shai das als dumm empfunden. Warum sollte man etwas anbeten, das man selbst erschaffen hatte?
Als sie nun vor ihrem Meisterwerk kniete, wusste sie es. Sie fühlte sich, als ob sie ihr ganzes Blut in diesen Stempel gegossen hätte. Sie hatte die Mühen von zwei Jahren Arbeit in drei Monate gepresst und sie in einer Nacht des verzweifelten, wie rasenden Schnitzens beendet. Während dieser Nacht hatte sie Veränderungen in ihren Aufzeichnungen und an der Seele selbst angebracht. Drastische Veränderungen. Sie wusste noch immer nicht, ob sie durch die endgültige, letzte Vision des Projektes als Ganzes bewirkt worden waren oder … oder ob diese Veränderungen mangelhaft waren, geboren aus Müdigkeit und Selbsttäuschung.
Sie würde es erst erfahren, wenn der Stempel angewendet wurde.
» Ist er … ist er fertig?«, fragte der eine ihrer Wächter. Die beiden hatten sich zum anderen Ende des Raumes begeben, saßen vor dem Kamin und hatten ihr Platz auf dem Boden gemacht. Sie erinnerte sich undeutlich, wie sie die Möbel beiseitegeschoben hatte. Einen Teil der Zeit hatte sie damit verbracht, Papierstapel unter dem Bett hervorzuziehen, dann selbst darunter zu kriechen und weitere herauszuholen.
War er fertig?
Shai nickte.
» Was ist das?«, fragte der Wächter.
Dunkle Nacht! , dachte sie. Natürlich! Sie wissen es nicht . Die
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