Die Seele des Königs (German Edition)
gestempelt werden müssen, und Ihr müsst diese Metallplatte – diejenige in dem Kästchen, die wie eine Scheibe aussieht – jederzeit bei Euch tragen. Ohne das werdet Ihr sterben, Ashravan.«
» Gib ihn mir«, sagte er und streckte die Hand nach dem Stempel aus.
Sie zögerte. Sie wusste nicht recht, warum.
» Gib ihn mir«, sagte er mit mehr Nachdruck.
Sie legte ihm den Stempel in die Hand.
» Sagt niemandem, was hier passiert ist«, bat sie ihn. » Weder den Wachen noch den Dienern. Nur Eure Schlichter wissen, was ich getan habe.«
Die Rufe draußen wurden lauter. Ashravan blickte in ihre Richtung. » Wenn niemand es wissen soll«, sagte er, » dann musst du jetzt gehen. Verlass diesen Ort und kehre niemals zurück.« Er schaute hinunter auf das Siegel. » Vermutlich sollte ich dich töten lassen, weil du mein Geheimnis kennst.«
Das war die Eigensucht, die er sich während seiner Jahre im Palast angeeignet hatte. Ja, sie hatte es richtig gemacht.
» Aber das werdet Ihr nicht tun«, sagte sie.
» Nein.«
Und da waren Gnade und Mitleid, tief verborgen.
» Geh, bevor ich meine Meinung ändere«, sagte er.
Sie machte einen Schritt zur Tür und schaute auf ihre Taschenuhr – schon über eine Minute. Der Stempel haftete – zumindest für kurze Zeit. Sie drehte sich um und sah den Kaiser an.
» Worauf wartest du noch?«, wollte er wissen.
» Ich wollte einen letzten Blick auf Euch werfen«, sagte sie.
Er runzelte die Stirn.
Die Rufe wurden lauter.
» Geh«, sagte er. » Bitte.« Er schien zu wissen, was es mit diesen Rufen auf sich hatte, oder zumindest konnte er es vermuten.
» Macht es diesmal besser«, sagte Shai. » Bitte.«
Mit diesen Worten floh sie.
Eine Zeit lang war sie versucht gewesen, in ihn das Verlangen hineinzuschreiben, sie zu beschützen. Doch zumindest für ihn hätte es keinen guten Grund dazu gegeben, und es hätte die gesamte Fälschung untergraben können. Außerdem glaubte sie nicht, dass er sie wirklich retten konnte. Während seiner Trauerzeit war es ihm nicht möglich, seine Gemächer zu verlassen und mit jemand anderem als mit seinen Schlichtern zu sprechen. Während dieser Zeit regierten die Schlichter das Reich.
Eigentlich regierten sie es sowieso. Nein, eine hastige Überarbeitung von Ashravans Seele zu Shais eigenem Schutz hätte nichts gebracht. Vor der letzten Tür nach draußen nahm Shai ihren gefälschten Nachttopf wieder an sich. Sie packte ihn fest und taumelte durch die Tür. Als sie die fernen Rufe und Schreie hörte, keuchte sie hörbar auf.
» Geht es da um mich ?«, rief Shai. » Dunkle Nacht! Das wollte ich nicht. Ich weiß, dass ich ihn nicht sehen sollte. Ich weiß, dass er sich zur Trauer zurückgezogen hat, aber ich habe die falsche Tür geöffnet!«
Die Wachen starrten sie an, dann entspannte sich der eine. » Es geht nicht um dich. Geh auf dein Zimmer und bleib da.«
Shai machte eine unbeholfene Verbeugung und eilte davon. Die meisten Wachen kannten sie nicht, und so …
Sie verspürte einen stechenden Schmerz in der Seite und keuchte auf. Dieser Schmerz fühlte sich so an wie der, den sie jeden Morgen empfand, wenn der Blutsiegler die Tür stempelte.
In Panik griff sich Shai an die Seite. Der Schnitt in ihrer Bluse – dort, wo Tzu sie mit seinem Schwert getroffen hatte – ging auch durch das dunkle Unterhemd! Als sie die Finger wieder hob, klebten Bluttropfen an ihnen. Es war nur ein Kratzer, nichts Gefährliches. In dem Gemenge war ihr gar nicht aufgefallen, dass Tzu sie verletzt hatte.
Aber an seiner Schwertspitze befand sich jetzt ihr Blut. Frisches Blut. Der Blutsiegler hatte es gefunden und mit der Jagd begonnen. Der Schmerz bedeutete, dass er sie gerade ortete und seine Häscher auf sie ansetzte.
Shai warf den Topf beiseite und lief los.
Nun konnte sie nicht länger in der Deckung bleiben. Es hatte keinen Sinn mehr, unauffällig zu sein. Wenn die Skelette des Blutsieglers sie erreichten, würde sie sterben. Das war es dann. Sie musste ein Pferd erwischen und vierundzwanzig Stunden lang den Skeletten voraus bleiben, bis ihr Blut alt geworden war.
Shai schoss durch die Korridore. Einige Diener zeigten auf sie, andere kreischten. Beinahe wäre sie gegen einen südländischen Botschafter in roter Priesterrüstung geprallt.
Shai fluchte und schlug einen Haken um den Mann. Inzwischen waren die Palastausgänge sicherlich verriegelt. Das wusste sie. Schließlich hatte sie die Sicherheitsvorkehrungen eingehend studiert. Es war fast
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