Die Seele des Königs (German Edition)
unmöglich, nach draußen zu gelangen.
Du musst immer einen Notfallplan haben , hatte Onkel Won gesagt.
Sie hatte immer einen.
Shai blieb in dem Korridor stehen und beschloss, dass es sinnlos war, auf einen der Ausgänge zuzulaufen. Zu diesem Ergebnis hätte sie schon früher kommen sollen. Sie stand kurz vor einer Panik, wenn sie an den Blutsiegler dachte, der ihr auf der Spur war, aber sie musste nun unbedingt klar denken.
Der Notfallplan. Er war fast aussichtslos, aber er war alles, was sie hatte. Sie lief weiter, schlitterte um eine Ecke und rannte denselben Weg zurück, auf dem sie hergekommen war.
Dunkle Nacht, hoffentlich habe ich ihn richtig eingeschätzt , dachte sie. Wenn er ein heimlicher Meisterscharlatan ist, bin ich verloren. O Unbekannter Gott, bitte. Lass mich diesmal richtigliegen .
Mit hämmerndem Herzen kam sie rutschend in dem Gang zum Stillstand, der zu den Gemächern des Kaisers führte. Ihre ganze Müdigkeit war für den Augenblick vergessen.
Sie wartete. Die Wachen beobachteten sie argwöhnisch, blieben aber auf ihren Posten am Ende des Korridors, wie es ihnen befohlen war. Sie riefen Shai etwas zu. Es fiel ihr schwer, sich nicht zu bewegen. Dieser Blutsiegler und seine schrecklichen Häscher kamen immer näher …
» Warum bist du hier?«, fragte eine Stimme.
Shai drehte sich um und sah, wie Gaotona den Gang betrat. Er hatte sich auf den Weg zum Kaiser gemacht. Die anderen würden nach Shai suchen, aber Gaotona wollte zuerst den Kaiser sehen und sich vergewissern, dass er in Sicherheit war.
Nervös trat Shai auf ihn zu. Das , dachte sie, ist vermutlich der schlechteste Notfallplan aller Zeiten .
» Es hat funktioniert«, sagte sie leise.
» Du hast den Stempel benutzt?«, fragte Gaotona, ergriff ihren Arm und warf einen Blick hinüber zu den Wächtern. Dann zog er sie außer Hörweite. » Das war das Gedankenloseste, Dümmste, Verrückteste …«
» Es hat funktioniert , Gaotona«, sagte Shai.
» Warum hast du ihn aufgesucht? Warum bist du nicht weggelaufen, solange du noch die Gelegenheit dazu hattest?«
» Ich musste es wissen. Ich musste es einfach.«
Er sah sie an; ihre Blicke trafen sich. Er sah ihr bis in die Seele, wie er es immer tat. Dunkle Nacht, er hätte einen wunderbaren Fälscher abgegeben.
» Der Blutsiegler ist dir auf der Spur«, sagte Gaotona. » Er hat diese … Wesen herbeigerufen, damit sie dich erlegen.«
» Ich weiß.«
Gaotona zögerte nur einen Augenblick, dann holte er ein hölzernes Kästchen aus einer seiner tiefen Taschen. Shais Herz tat einen Sprung.
» Wie hast du das gemacht?«, fragte er. » Ich war der Meinung, dass ich dich sehr genau beobachtet habe. Ich war mir sicher , dass ich nicht manipuliert worden bin. Und dennoch bin ich hergekommen und habe irgendwie gewusst, dass ich dich hier finden werde. Ich habe gewusst, dass du das hier brauchst. Und bis zu diesem Augenblick war mir nicht klar, dass du all das vermutlich geplant hast.«
» Ich habe Euch manipuliert, Gaotona«, gab sie zu. » Aber ich musste es auf die schwierigste Art und Weise tun, die überhaupt möglich ist.«
» Und was ist das für eine Art und Weise?«
» Ich musste aufrichtig sein«, erwiderte sie.
» Man kann niemanden manipulieren, indem man aufrichtig ist.«
» Ach, nein?«, fragte Shai. » Habt Ihr so nicht Euren ganzen Lebensweg gestaltet? Wart Ihr etwa nicht aufrichtig zu den Menschen und habt ihnen gesagt, was sie von Euch zu erwarten haben, weswegen Ihr von ihnen ebenfalls Aufrichtigkeit erwartet habt?«
» Das ist nicht dasselbe.«
» Nein«, sagte sie. » Das ist es nicht. Aber es war das Beste, was ich machen konnte. Alles, was ich Euch gesagt habe, entspricht der Wahrheit, Gaotona. Das Gemälde, das ich zerstört habe, die Geheimnisse aus meinem Leben und meine Wünsche … all das war echt. Es war die einzige Möglichkeit, Euch auf meine Seite zu ziehen.«
» Ich bin nicht auf deiner Seite.« Er hielt inne. » Aber ich will auch nicht, dass du umgebracht wirst, Mädchen. Insbesondere nicht von diesen Wesen . Nimm das hier. Nimm es und geh, bevor ich es mir anders überlege.«
» Danke«, flüsterte sie und drückte das Kästchen gegen ihre Brust. Sie tastete in ihrer Rocktasche herum und zog ein kleines, dickes Buch hervor. » Passt darauf auf«, sagte sie. » Zeigt es niemandem.«
Widerstrebend nahm er es entgegen. » Was ist das?«
» Die Wahrheit«, sagte sie, beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. » Wenn mir die Flucht gelingt,
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