Die Seele des Ozeans (German Edition)
Morgengrauen.
Er griff nach vorne und berührte glatte Schuppen. Nein, dieses Wesen verschwand nicht. Es wurde mit jedem Atemzug wirklicher, und je länger Alexander über diesen Körper strich, umso tiefer arbeitete sich die Erkenntnis in sein Gehirn vor, bis sie jene Areale erreichte, die er für unveränderlich gehalten hatte.
Als Ukulele und Henry begannen, es ihm gleichzutun, wurde es Kjell zu viel. Er versteifte sich spürbar, hielt ein paar Momente still und entwischte ihren Händen mit einer schnellen Bewegung. Ein Aufblitzen von Wasser, ein blitzschneller Schemen unter den Wellen, und Kjell tauchte gute zehn Meter vom Strand entfernt wieder auf.
„Komm, Fae.“ Geschmeidig durchschnitt seine Fluke das Wasser und gleißte weiß wie Schnee. „Es ist ganz in der Nähe.“
Fae begann sich auszuziehen. Sie vertraute Kjell, einem unbegreiflichen, unberechenbaren Wesen. Gab sich seinem Versprechen hin, ohne zu wissen, ob es in seiner Welt überhaupt Versprechen gab.
„Ich habe Angst um dich.“ Alexander nahm sie bei den Schultern und flüsterte die Worte in ihr Ohr. „Du weißt nicht, ob er die Wahrheit sagt. Wir wissen nicht, warum er wirklich zu dir kam und warum er dich gerettet hat.“
„Ich weiß. Aber ich muss es versuchen. Es ist meine letzte Hoffnung.“ Fae hauchte einen Kuss auf seine Wange. Diese kurze, flüchtige Berührung schmerzte schlimmer als eine tiefe Wunde. Er wollte sie nicht verlieren! Er würde nicht weiterleben können, wenn Fae ihn verließ!
„Ich bete darum, dass er die Wahrheit sagt.“
Fae schüttelte den Kopf. „Er sagte, er wüsste nicht, ob die Seele mich heilen kann. Es ist nur ein Versuch. Ein Instinkt.“
„Seele? Was für eine Seele?“
Sie legte eine Hand auf seine Wange und lächelte zu ihm auf. „Das erzähle ich dir später. Es wird alles gutgehen. Ich bin schon vielen Hoffnungen hinterhergerannt, aber diesmal …“ Ihr Blick schweifte zum Wasser hinüber, wo Kjell die Arme ausbreitete und sich auf dem Rücken treiben ließ. „Diesmal fühlt es sich anders an. Diese Magie ist echt, verstehst du? Du hast es auch gespürt, nicht wahr? Seine Kraft, seine Energie. Es ist pures Leben, Alex.“
Er presste die Lippen aufeinander, nickte und wich zurück. „Ja, ich habe es gespürt. Aber sei trotzdem vorsichtig. Und du, Sardine“, er wandte sich dem Meer zu und hob seine Stimme, „denke an das Video. Krümme meiner Schwester auch nur ein Haar, und wir sorgen dafür, dass die ganze Welt hinter dir her ist. Es wird keinen Ort auf dieser Welt mehr geben, wo du sicher bist. Hast du mich verstanden?“
Kjell erwiderte nichts, seine Miene blieb regungslos. Nur ein paar ruckartige Bewegungen seiner Fluke ließen vermuten, dass ihn die Botschaft der Worte erreicht hatte.
Faes Körper schauderte, als sie in die Brandung ging.
„Alles Gute, Kleines.“ Ukulele wandte sich ab, damit niemand seine Tränen sah. Henry beschränkte sich auf ein Nicken und ein zittriges Lächeln. Etwa hundert Meter vom Strand entfernt erschien ein bläuliches Licht, das schnell heller und größer wurde. Meeresleuchten? Nein, dafür war es zu kalt, und selbst in tropischen Nächten war es niemals so intensiv.
„Was ist das?“ Alexander ballte die Hände zu Fäusten, so stark war der Drang, Fae zurückzuziehen. „Es kommt genau auf uns zu.“
„Die Seele des Ozeans“, antwortete seine Schwester, ohne sich zu ihm umzudrehen. Schritt für Schritt ging sie ins Wasser, während sie fröstelnd die Arme um ihren Brustkorb schlang. „Sie wird mich heilen.“
„Was?“, fragten Henry und Ukulele synchron.
„Keine Angst. Alles wird gut.“ Sie winkte ihnen zu, holte tief Luft und ließ sich ins Wasser gleiten. Binnen eines Augenblicks war Kjell bei ihr. Behutsam schloss er seine Arme um sie, trug sie weiter und weiter hinaus, bis die Nacht sie beide verschluckte.
~ Fae ~
Langsam trug er sie hinaus ins tiefe Wasser, hin zu dem hellen Schimmer, der wie eine Wolke in der Ferne leuchtete. Die anmutigen Wellenbewegungen seines Fischkörpers streiften ihre nackten Beine. Ihm so nah zu sein, ihre Arme um ihn zu schließen und seine Haut an ihrer zu spüren, verwandelte ihre wirbelnden Gedanken in einen betäubenden Rausch. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, wagte nicht, einen Laut von sich zu geben. Das Wasser war kalt wie Eis.
Fae blickte zurück zum Strand, über den sich wieder die Dunkelheit gesenkt hatte. Von Alexander, Ukulele und Henry waren kaum mehr als Schatten zu
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