Die Seele des Ozeans
Klingel.
Fae atmete tief ein, stand auf und ging zur Tür hinüber. Sie wusste, dass es Kjell war, noch ehe sie öffnete, und als sie es tat und sich ihm gegenübersah, war es, als gefriere ihr Blut. Kjells Augen glühten, während er mit tropfenden Haaren dastand, die Kleidung feucht, das weiße Hemd durchsichtig.
Fremd. Abgrundtief fremd.
Doch Fae spürte, wie die Angst vor ihm von etwas anderem durchzogen wurde. Sein Lächeln sandte einen prickelnden Schauer durch ihren Körper, als hätte sie sich in einem Anfall fatalistischer Euphorie in die Tiefe gestürzt, ohne zu wissen, ob sie am Grund Wasser auffangen würde oder harter Stein.
„Danke, dass du mir wieder Kleidung hingelegt hast“, hörte sie ihn sagen.
Fae brachte kein Wort hervor. Sie starrte ihn nur an. Seine weiße Haut, seine reptilienhaften Augen. Er sah nicht aus wie jene Wesen auf den verträumten Märchenbildern, auf denen Meermenschen mit Delfinen spielten oder auf Muscheln musizierten. Nein, er gehörte in ein Bild, in dem furchterregende Wesen über die Knochen ihrer Opfer wachten und mit hungrigem Lächeln darauf warteten, von Neuem den Tod zu bringen.
Wortlos streckte er den Arm vor und öffnete seine Hand. Ein langes, filigranes Armband kam zum Vorschein, bestehend aus feinen Silberfäden, auf denen schwarze Perlen aufgezogen waren.
„Für mich?“, flüsterte Fae.
„Es tut mir leid.“ Mit scheuer Zärtlichkeit legte er das Schmuckstück um ihr Gelenk. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie atmete tief ein und schloss die Augen, während seine Finger, als er das Band verschlossen hatte, ganz leicht über ihre Handfläche strichen.
„Ich hätte den Tee niemals trinken dürfen.“
„War es nur der Tee?“
„Vielleicht“, antwortete er. „Ich habe so etwas noch nie zuvor gefühlt. Habe ich dir wehgetan, Fae?“
Seine Angst schien echt, der Schmerz in seinem Blick ehrlich zu sein. Aber wie konnte sie glauben, jemanden wie ihn durchschauen zu können?
„Wenn du willst“, sagte er leise, „dann gehe ich wieder. Ein Wort von dir, und du siehst mich nie wieder. Ich schwöre es.“
Fae spürte, wie sie den Kopf schüttelte, und plötzlich war sie bei ihm, schloss die Arme um seinen Körper und ließ ihre Lippen über seinen Hals streichen. Was war warme, grobe Menschenhaut gegen diese kühle Seide? Salzige Wildheit überwältigte sie, stürmische Freiheit und der Geschmack von dunklen Geheimnissen.
„Entschuldigung, ihr Turteltäubchen“, hörte sie Ukulele rufen. „Ihr mögt in eurem Endorphinrausch vielleicht keine Kälte spüren, aber mein Hintern wird gerade tiefgefroren. Seid so nett und macht die Tür zu.“
Hand in Hand traten sie ins Haus und setzten sich auf das Sofa. Fae nahm ein Plaid, breitete es aus und legte es über sich und Kjell. Für diesen Abend und diese Nacht war es ihr gleich, was er war. Sie wollte nicht denken und sich nicht fürchten, sondern nur weit weg von allem sein.
Eine Weile sagte niemand etwas. Alexander las in seiner Zeitung und beschränkte sich auf strafende Blicke, Ukulele kritzelte etwas in sein Notizbuch. Fae spürte, wie Kjells behutsame Umarmung ihre Anspannung löste, die Kopfschmerzen vertrieb und sie zurück in jene selige Leichtigkeit brachte, nach der sie sich so sehnte.
Die Sanftheit, die er zeigte, hätte in keinem deutlicheren Gegensatz zu dem stehen können, was er sie gestern Abend hatte fühlen lassen. Und doch empfand sie nicht nur Angst, wenn sie an dieses unberechenbare Wesen dachte.
„Wo ist Henry?“, fragte Kjell, und sie spürte an ihrer Wange das Vibrieren seines Brustkorbs, als er sprach.
„Im Technikraum“, antwortete Alexander. „Er verleiht dem Film den letzten Schliff. So wie er aus dem Häuschen ist, muss es grandios werden. Seid froh darum, denn hätte ich auch nur ein bisschen weniger gute Laune, würde ich euch beide …“
„Schsch!“, zischte Ukulele. „Das dort sind zwei erwachsene Menschen, die beide etwas nachzuholen haben. Alles ist gutgegangen, also belasse es dabei.“
Alexander gab mit einem Schulterzucken klein bei. Wieder ließen sie sich gemeinsam ins Schweigen fallen. Nach und nach steigerte sich der Wind zu einem Sturm. Schauerlich heulte und klagte es unter dem Dach, Wellen warfen sich mit lautem Dröhnen an den Strand und spuckten ihren Schaum bis an die Fenster.
„Du bist wie das Meer.“ Fae tippte Kjell mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Es kann das Schiff sanft wiegen und sicher ans Ziel bringen. Oder es
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