Die Seele des Ozeans
gesehen habt. Ich war kein Mensch mehr. Die Sonne ging gerade auf, und ich lag zwischen wilden Seehunden, mit einem Fischschwanz statt Beinen.“
Eine Zeit lang herrschte bedeutungsvolle Stille. Sie tauschten Blicke aus, verarbeiteten gemeinsam Kjells Erzählung, bis Ukulele das Schweigen brach: „Moment mal. Sagtest du gerade Gedächtnisverlust?“
Kjell nickte. „Als ich auf der Insel aufwachte, wusste ich nicht mehr, was passiert war. Ich wusste nicht, wie ich aus dem Haus herausgekommen war, und ich wusste nicht, dass mein Vater tot war. Das kam erst später zurück. Zumindest teilweise.“
„Also ein Trauma.“ Alexander kugelte sich in seinem Sessel zusammen. „Kein Wunder bei solch einschneidenden Erlebnissen. Wovon ernährst du dich? Bist du Friedfisch oder Raubfisch?“
Kjell trank seinen Becher leer, stellte ihn auf den Tisch und sank wieder zurück. Jede Bewegung geschah langsam und mit träumerischer Ruhe. Ein erregendes Frösteln rieselte durch Faes Körper, als sie ihre Arme um ihn schloss.
„Ich nehme alles, was ich kriegen kann. Genauso wie ihr.“
Ukulele gluckste. „Da fällt mir was ein. Erinnert ihr euch an das Meci-Fest in der Südsee? Wie hieß noch mal die Insel?“
„Fataluku, wenn ich mich nicht irre.“ Alexander zog eine angewiderte Grimasse. „Bitte, frische nicht meine Erinnerungen auf.“
„Warum nicht?“ Fae warf dem Hawaiianer einen auffordernden Blick zu. „Erzähl schon.“
„Nun ja, ich habe vor den Augen deines Bruders die Geschlechtssegmente eines maritimen Ringelwurms verspeist. Eine ganze Handvoll, um genau zu sein.“
„Was hast du?“
Alexander gab ein würgendes Geräusch von sich. „Dieser Mistkerl frisst wirklich alles. Zuerst dachte ich, es wären Nudeln, bis ich sah, dass die Nudeln sich bewegten.“
„Sagtest du Geschlechtssegmente?“
„Yep.“ Ukulele grinste. „Zweimal im Jahr findet auf bestimmten Südseeinseln ein Fest statt. Im letzten Mondviertel des Februars feiert man das kleinere Mechi kiik und bei Neumond im März das große Mechi boot. Der Meci-Wurm trennt zur Fortpflanzung seine Geschlechtssegmente ab, und die können sich selbstständig fortbewegen. Sie geben Eier und Sperma ab und verenden, der Wurm selbst macht es sich in den Korallen gemütlich. Die Südseebewohner feiern mehrere Tage lang, singen und tanzen und besaufen sich mit Palmwein.“
„Das ist der schöne Teil“, warf Alexander ein. „Voll von hübsch anzusehenden Menschen. Sie singen vom Kreislauf des Lebens, danken den Ahnen und bitten sie um eine reiche Meci-Ernte. So weit, so gut. Bis dahin wusste ich nicht mal, was mit Meci gemeint war. Ich ging von Früchten aus. Irgendetwas Pflanzliches.
„Mechi cau vari morisa“ , sang Ukulele mit seiner warmen, dunklen Hawaiianer-Stimme, „nia lalu apare, tanalalu apare.“
„Was bedeutet das?“, fragte Fae.
„Es bedeutet: Durch das Meci bitten wir um den Segen guter Gesundheit.“
„Du hast dir das Lied gemerkt?“
„Nur einen Teil davon. Abends geht das Fest jedenfalls erst richtig los. Alle putzen sich raus, gehen in einer langsamen Prozession zu ihren Einbäumen und fahren auf das Meer hinaus, wo sie die Meci rufen.“
„Sie singen für die Würmer“, spottete Alexander. „Auch noch ganz nett. So nett wie die Grüppchen, die mit Fackeln durch das Wasser gehen. Die Geschlechtssegmente sind nämlich lichtempfindlich. Man sieht sie zappeln, kann sie einsammeln und in Palmblättern verstauen.“
„Anschließend isst man die Dinger roh, abgeschmeckt mit Chili und Zitrone. Ihr werdet es nicht glauben, aber sie schmecken besser, als sie aussehen.“
Alexander schnaufte. „Wer freiwillig Geschlechtssegmente von Würmern isst, hat nicht mehr alle Latten am Zaun.“
„Du beleidigst gerade einen Haufen Südseebewohner.“
„Von mir aus.“ Ihr Bruder füllte seine Tasse auf. „Es gab sicher schon mal einen Südseebewohner, der mich beleidigt hat.“
„Warst du schon mal in der Südsee, Kjell?“, fragte Ukulele.
„Bei den Cook-Inseln.“
„Woher wusstest du ohne Karte, wo du warst?“
„Ich hatte jahrelang nichts anderes zu tun, als Bücher auswendig zu lernen. In einem fand ich … wie nennt ihr das? … Meeresbodentopografien. Die Berge, Schluchten und Ebenen auf dem Grund. Ich hatte sie alle hier drin.“ Er tippte auf seine Stirn.
„Nicht schlecht.“ Alexanders Augen funkelten beeindruckt. „Spürst du auch die Magnetfeldlinien?“
„Ich weiß nicht. Wie fühlen sich Magnetfeldlinien
Weitere Kostenlose Bücher