Die Seele des Ozeans
ihren Zeigefinger.
„Der Hund Gelert gehörte Fürst Llywelyn von Gwynedd“, begann Henry mit übertrieben theatralischer Stimme vorzutragen. „Er erhielt ihn als Geschenk von König Johann Ohneland von England. Eines Tages fand Llywelyn bei der Rückkehr von der Jagd die Wiege seines kleinen Sohnes umgestoßen. Das Baby war nirgends zu finden, und Gelert, dessen Aufgabe es gewesen war, das Kind zu beschützen, war über und über blutverschmiert. Llywelyn glaubte, der Hund hätte seinen Sohn umgebracht, also zückte er sein Schwert und stach es Gelert ins Herz.
Kaum war der Hund tot, hörte der Fürst das Weinen eines Kindes. Zu seiner großen Erleichterung fand er seinen Sohn unverletzt unter der Wiege. Neben dem Kind lag ein Wolf, den Gelert getötet hatte. Es war dessen Blut, mit dem das Fell des Hundes besudelt gewesen war. Llywelyn empfand unbezwingbaren Schmerz über seine schändliche Tat. Er ließ den Hund ehrenvoll begraben und lächelte danach niemals wieder. Solange er lebte.“
Henry verstummte, ihr Bruder und Ukulele straften ihn mit wütenden Blicken. „Musste das sein?“, knurrte Alexander. „In diesem verdammten Buch ist eine Geschichte deprimierender als die andere.“
„Das ist eben so.“ Fae schnupperte an der Strähne. Wie immer roch das Haar ihres Bruders nach dem Hanf, den er gerne und verschwenderisch rauchte, wenn er glaubte, niemand würde es merken.
„Was meinst du, warum ich in Irland sein will?“
„Weil hier überall der Tod ist? Überall nur Ruinen und alte Friedhöfe. Sogar die Gerippe sieht man, wenn die Grabplatten zerbrochen sind. Niemand kümmert sich darum.“
„Weil der Tod hier genauso selbstverständlich ist wie das Leben. Hör zu, Henry, ich habe eine große Bitte an dich. Würdest du sie mir erfüllen?“
„Klar doch“, gab er zurück.
„Erscheine bei meiner Beerdigung in einem Sensenmann-Kostüm. Tauche auf, ohne ein Wort zu sagen, und verschwinde auf dieselbe Weise wieder.“
Alexander stöhnte und entriss ihr die Strähne. „Hör auf, so zu reden.“
„Was denn?“, gab sie zurück. „Ich sterbe. Das wisst ihr alle.“
Ihr Bruder fauchte einen unverständlichen Fluch. Ruppig stand er auf und verschwand im hinteren Bereich des Hauses, wo sein Zimmer lag. Fae sah ihm ungläubig hinterher. Was war denn jetzt schon wieder los? Er tat doch sonst so stark und unerschütterlich.
„Sieh’s ihm nach, er hatte einen schlechten Tag.“ Ukulele schwenkte eine halbleere Packung Orangenmarzipan-Pralinen durch die Luft. „Es geht ihm ziemlich an die Nieren, auch wenn er es nicht zeigt.“
„Genau genommen heult er jede Nacht“, warf Henry ein. „Und wenn er sich ausgeheult hat, knallt er sich mit seiner Wasserpfeife die Birne zu.“
„Halt die Klappe!“, fauchte Ukulele.
„Was denn? Soll sie nicht wissen, dass es ihrem Bruder schlecht geht?“
„Ja! Sie sollte es nicht wissen.“
„Wie ich Fae kenne, weiß sie es schon längst. Er ist ihr Bruder, Alter. Seine Augenringe hängen ihm bis zu den Kniekehlen, er riecht hundert Meilen gegen den Wind nach seinem Shit und kriegt kaum noch einen Bissen runter. Glaubst du im Ernst, Fae hat keine Ahnung, wie es ihm wirklich geht?“
„Jungs, haltet einfach den Mund.“ Am liebsten hätte sie irgendetwas zerschlagen. Sie hatte die Nase voll von diesem Mist. Endgültig voll.
In zwei Zügen trank sie ihren Kakao aus, trat vor Wut gegen das Tischbein und rannte die Treppe ins Dachgeschoss hoch. Oben angekommen schlug sie die Tür ihres Zimmers zu und setzte sich vor das Teleskop. Ihr zweitliebster Schatz gleich nach dem violetten Laptop. Nur weg. Einfach weg von hier.
Während Tränen über ihre Wangen rannen, richtete sie das Fernrohr auf den Mond aus, der hoch über dem Haus stand, blickte durch das Okular und konzentrierte ihre Gedanken auf die bleiche Kugel.
„Wir sind uns ziemlich ähnlich, was?“ Ihr Blick ruhte auf dem Meer der Gefahren. Er streifte das südliche Meer und verharrte auf dem See der Zeit. Von der Anstrengung, sich zusammenzureißen, zitterte ihr ganzer Körper. „Alle glauben, uns zu kennen, aber in Wahrheit sind wir ein großes Rätsel. Mare Frigoris. Mare Humorum. Das Wolkenmeer. Schäumendes Meer und Meer der Ruhe.“
Faes Gedanken fanden Zuflucht in den Kratern, Tälern und Ebenen des Gestirns. Sie stellte sich vor, dort oben zu sein. Inmitten vollkommener Stille im aschefeinen Staub des Mondes, während am Horizont die Welt unterging. Der blaue, von weißen Wolken
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