Die Seele des Ozeans
Schwimmhäute, keine Kiemen, keine Rückenstacheln. Sollte er es wirklich wagen? Noch war es nicht zu spät. Er konnte verschwinden und das tun, was vernünftig war. Obwohl kein Tag und keine Nacht vergingen, in der ihm im Meer nicht der Tod begegnete, konnte er ihm diesmal keine Gleichgültigkeit entgegenbringen. Er wollte nicht sehen, wie sie zugrundeging. Aber wenn er jetzt zu ihr schwamm und ihr die Wahrheit zeigte, würde ihm keine Wahl bleiben.
Kjell sah sich um. Der nächtliche Horizont lockte mit dunkler Ferne, aber ehe er wusste, wie ihm geschah, schwamm er noch näher an Fae heran. Lautlos, in der Bewegung der Welle, die gegen den nächsten Felsen brandete. Aber sie hörte ihn dennoch, fuhr hoch und lauschte. Ihr Gesicht war tränennass.
Kjell presste sich eng an den Stein und bewegte sich nicht. Atmete nicht. Noch immer brannte Wasser in seiner Kehle. Ein unterdrückter Hustenanfall krampfte seinen Brustkorb zusammen, so heftig, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Als die nächste Welle an den Stein schwappte, räusperte er sich leise. Es nützte nichts. Das Brennen wurde nur schlimmer. Wütend krallte er seine Finger in den rauen Fels und versuchte, sich zu beherrschen. Vergeblich. Als er den letzten Rest Salzwasser aus seinen Lungen hustete, fühlte es sich an, als wollten sie zerreißen.
„Kjell?“
Seine Augen und seine Kehle brannten wie Feuer.
Verschwinde!, schrie sein Instinkt. Tauche ab!
Aber als er Fae hinter sich spürte, drehte er sich um und blickte zu ihr auf. Vielleicht dachte sie, seine Tränen seien nur Gischt. Verflucht, dieser Körper verschwor sich gegen ihn. Er hustete noch einmal, holte mühsam Luft und senkte den Blick. Durch Kiemen zu atmen, war wesentlich einfacher.
Und was jetzt?
Er spürte ihren Blick auf sich ruhen, ein Gefühl, so herrlich und beängstigend zugleich, das er zu zittern begann. Es hatte sich so gut angefühlt, als sie ihre Wange an seine Schulter geschmiegt hatte. Es war so herrlich gewesen, als sie ihm leise Worte ins Ohr geflüstert und sich ihr Körper ganz leicht an seinen gedrückt hatte. Und herrlich war auch die Verlockung gewesen, ihr alles anzuvertrauen. Sein wahres Wesen, seine wahre Gestalt. Der Druck in seinem Inneren wurde plötzlich unerträglich, und der Gedanke, ihr alles zu erzählen – ihr, einem fremden Menschen – immer stärker.
Nein, das wäre ein Fehler. Ein sehr großer Fehler. Vielleicht ist es nur das, was man ein Fieber nennt. Nur eine Krankheit.
„Bist du gekommen, um es mir endlich zu verraten?“
Ihre Stimme klang zart und verletzlich. Bäuchlings legte sie sich auf den Felsen und wischte mit beiden Händen über ihre feuchten Augen. Kjell blickte wie gebannt zu ihr auf. Wieder war ihr Gesicht ganz nah an seinem und ließ ihn zarte Wärme spüren. Sie verschränkte die Arme und stützte ihr Kinn auf den Händen ab. Nachtlicht fing sich in ihren Augen. Er spürte ihre Freude. Ihre Faszination. Ihr ungläubiges Staunen. All diese Gefühle galten ihm. Allein ihm.
Und plötzlich wusste er wieder, warum er die Gefahr in Kauf nahm. Wenn sie ihn ansah, so wie jetzt, fühlte er sich lebendiger als je zuvor. So berauschend das Meer auch war, so herrlich das Schwimmen durch mondhelles Wasser, genoss er all das doch allein. Ohne die Nähe eines Artgenossen. Aber das hier war etwas anderes. Dieser Genuss hatte etwas unbeschreiblich Erfüllendes an sich. Er war wie ein Feuer, wenn man schrecklich fror.
„Du kannst mir vertrauen.“ Sie starrte an ihm vorbei in das Wasser.
Wusste sie, dass er etwas versteckte? Kjell schmiegte die untere Hälfte seines Körpers so eng an den Stein, dass Fae unmöglich etwas erkennen konnte. Sie sah nur den Menschen. Aber sah seine menschliche Hälfte wirklich menschlich aus? Fae besaß nicht solche Hände wie er.
Nicht so weiß, nicht so schimmernd, und nicht mit Häuten zwischen den Fingern. Häute? Ihm rieselte ein heißkalter Schauer über den Rücken. Warum waren sie ihm wieder gewachsen? Er hatte nicht aufgepasst, war zu abgelenkt gewesen von ihrer Erscheinung. Entsetzt bemerkte Kjell, auf welch verräterische Weise seine Haut das Mondlicht reflektierte. Und seine Hand lag unmittelbar vor ihr auf dem Felsen. Mit geschlossenen Fingern und versteckten Schwimmhäuten, aber ganz sicher nicht menschlich. Mit einem Mal wurde der Wunsch, ihr alles zeigen zu wollen, zu einer schrecklichen Dummheit.
„Nicht!“ Als hätte sie vorausgesehen, dass er seine Hand wegziehen wollte, griff Fae
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