Die Seele des Ozeans
und sie nervös ineinander verschränkte.
„Geht es dir gut? Du siehst aus, als würdest du gleich in deine Atome zerspringen.“
„Atome“, flüsterte er gepresst. „Grundbausteine der Materie. Entstammt dem Griechischen und bedeutet das Unteilbare.“
„Völlig korrekt. Nehme ich jedenfalls an. Meine letzte Physikstunde ist fünfzehn Jahre her. Woher weißt du, was Atome sind?“
„Bücher“, brummte er nur.
„Natürlich. Das untergegangene Atlantis besitzt vermutlich eine beachtliche Bibliothek. Wie haltet ihr die Bücher unter Wasser in Schuss? Mit Plastikfolien?“
Kjell brummte etwas Unverständliches.
„Also keine Unterwasserbibliothek?“, hakte sie nach.
„Ich habe dir gesagt, wo ich gelebt habe. Dort gab es Bücher.“
„Ja, sicher.“ Fae hob die Hände und sah, wie heftig sie zitterten. Nur nicht zu genau darüber nachdenken, was hier gerade geschah. Und schon gar nicht darüber nachdenken, wie Kjells wahre Gestalt aussah. Sie brauchte Zeit und Antworten. Beides würde schwierig werden.
„Dann geht es dir also gut?“
Sein Nicken war nichts als eine Lüge. Etwas jagte ihm Angst ein, so sehr, dass ein Beben seinen Körper durchlief. Erst als Fae bemerkte, worauf sein starrer Blick fixiert war, kam ihr eine Vermutung.
„Es ist der Riegel, oder? Du magst es nicht, eingesperrt zu sein?“
Wieder nickte er.
„Soll ich ihn aufschieben?“
„Ja.“
Fae tat ihm den Gefallen, obwohl es ihr nicht behagte. Alexander neigte selten dazu, sein Kommen durch Klopfen anzukündigen. Kjell murmelte etwas, schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein, nicht anders als ein Mensch, der versucht, sich selbst zu beruhigen. Warum wirkte bei ihm jede halbwegs normalsterbliche Geste so merkwürdig? Wie die Bewegung eines Schauspielers, der sich nur zaghaft in seine neue Rolle einlebte? Während sie langsam auf ihn zuging, arbeiteten ihre Gedanken fieberhaft. Er kannte ihre Sprache und beherrschte sie perfekt. Er hatte Bücher gelesen und wusste, was Atome waren. Also hatte er unter Menschen gelebt, es sei denn, er war heimlich in das Haus geschlichen, um zu lesen. Seine Reaktion auf das Schließen der Tür deutete auf schlechte Erfahrungen hin. Wie er vor ihr stand, unsicher und tropfnass, die Arme vor der Brust verschränkt, wirkte er trotz seiner kalten Reptilienaugen unfassbar verletzlich. Fae spürte den überwältigenden Drang, alles Schlechte von ihm fernzuhalten. Es aus ihm herauszusaugen, bis nur noch Glück übrig war.
Vorsicht!, mahnte ihre Vernunft. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht, wozu er fähig ist. Ich weiß überhaupt nichts über ihn.
„Du bist nicht eingesperrt“, sagte sie behutsam. „Wenn du gehen willst, dann geh.“
„Ich weiß.“ Die leise Weichheit seiner Stimme streichelte ihren Körper und entfachte eine ziehende Leere. Es war, als sei sie ein Resonanzgefäß, das durch seine Nähe in Schwingung versetzt wurde. Bildete sie es sich nur ein, oder war ihr Körper nicht so taub wie sonst? Ein Kitzeln floss über die Härchen ihrer Arme, fast so, als spüre sie einen kühlen Wind.
„Ich mag keine Türen“, flüsterte Kjell. „Ich habe sie noch nie gemocht.“
„Hat jemand dich eingesperrt?“
„Es ist lange her.“
„Warum?“
Er antwortete nicht darauf. Reglos stand er da, strahlend und rein, während die silbernen Sprenkel in seinen Augen lebhaft funkelten. Kjell studierte sie. Sein Blick wanderte ungläubig über jeden Zentimeter ihres Körpers, als sei sie für ihn ebenso wundersam anzusehen, wie er es für sie war.
„Haben Menschen herausgefunden, was du bist?“, fragte sie leise. „Haben sie dich deswegen eingesperrt?“
Fae trat näher zu ihm hin. Mit jedem Schritt wurde das kitzelnde Gefühl stärker, beschränkte sich nicht mehr nur auf ihre Arme, sondern breitete sich aus. Es war, als trete sie in ein Energiefeld oder in ein Licht, das sie umhüllte.
Bist du das? Oder ist es das Ding in meinem Kopf?
Kjell wagte es nicht, sie anzusehen. Sein Schweigen war Antwort genug. Jemand hatte ihn gefangengehalten. Irgendwo. Irgendwann. Und er versuchte, zu vergessen.
Kaum eine Handbreit vor ihm blieb Fae stehen. Nein, er sah nicht auf den Boden. Sein Blick ruhte auf ihren Brüsten, neugierig und fasziniert wie der eines Jungen. Ein Lachen kämpfte sich aus ihrer Kehle hervor. Sie versuchte es zu unterdrücken, scheiterte und entließ ein albernes Prusten. Allmächtiger, bitte nicht jetzt!
Plötzlich trafen sich ihre Blicke, und hatte Fae gerade
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