Die Seele des Ozeans
im Hals stecken. Was Fae damit meinte, war vollkommen klar. Ihre Worte am Strand, ihre seltsamen Andeutungen. Seine Mutter verband ihn mit einer ihrer Romanfiguren. In ihrem Kopf war Kjell aus dem Buch sein Vater, und das Meersalz in seinem Blut das Erbe, das bis vor kurzem geschlafen hatte.
Luke, ich bin dein Vater.
Ihm verging endgültig der Appetit. Vielleicht träumte er nur. Vielleicht saß er im Flugzeug nach Sydney und schlief tief und fest. Vielleicht. Ein bedeutungsloses Menschenwort. Wie Meeresschaum an einem warmen Sommertag. Verdammt und zugenäht, hätte er dieses dämliche Buch doch nie in die Hand genommen.
„Geh lesen, mein Sohn.“
Faes Stimme verwandelte seine Hoffnung in eine Farce. Sie klang klar, gefestigt und sehr real. „Lies weiter, dann werden deine Fragen beantwortet. Aber heute Abend möchte ich dir etwas zeigen.“
„Angus’ Haus?“ Kjell wusste es. Er wusste es einfach.
„Genau das. Es ist voller Erinnerungen, und wenn mich nicht alles täuscht, wirst du sie sehen können.“
„Sie sehen?“
„Ja. So wie ich Fionas, Angus’ und Breacs Erinnerungen gesehen habe. Und die …“, sie stockte und sah beiseite, „die deines Vaters, als er mich verließ. Es ist eine Gabe empfindsamer Seelen. Wenn sie wissen, wie man zuhört, sehen sie Erinnerungen. Die Bilder und Gefühle sind wie Geister. Allgegenwärtig. Überall. Aber an manchen Orten sind sie besonders stark.“
Kjell räusperte sich. Er stand auf, räumte seinen Teller beiseite und machte sich gerade daran, auch den Rest in die Spüle zu verfrachten. Doch Fae fuhr hoch und ergriff seinen Arm.
„Ich erledige das. Du gehst hoch und liest.“
„Aber …“
„Nichts da. Ich bin kein tatteriger Knochensack, auch wenn du gerade anderer Meinung bist.“
„Geht es dir wirklich gut? Ich kann hierbleiben, wenn du willst.“
„Unsinn.“ Sie vollführte eine energische Handbewegung. „Ich komme klar. Geh hoch und lies weiter.“
Kjell holte tief Luft. So entschlossen ihre Worte auch geklungen hatten, er vertraute ihnen nicht. Was würde aus Fae werden, wenn er sechs Monate lang durch die Welt reiste? Jemand musste auf sie aufpassen und die Aufgabe übernehmen, die eigentlich in seiner Verantwortung lag. Oder sollte er sich über den Willen seiner Mutter hinwegsetzen und Daniel damit beauftragen, sämtliche Vorträge aus privaten Gründen abzublasen? Nein, unmöglich. Seine Mutter und er brauchten das Geld. Inzwischen mehr denn je. Andererseits … was nützten monatliche Überweisungen, wenn sie einsam und allein zugrunde ging? Verdammt noch eins, er hatte keine Ahnung, was das Richtige war.
„Geht es dir wirklich gut, Mum? Bitte sag mir die Wahrheit.“
„Hör endlich auf mit deinen Sorgen. Mir geht es bestens. Jetzt geh schon. Die Geschichte wartet.“
Kapitel VI
Inspiration
~ Fae, September 2009 ~
D en schnurrenden Kater auf dem Bauch, starrte sie durch das geöffnete Fenster zu den Sternen hinauf. Ihre Tränen waren versiegt und hatten eine brennende Leere hinterlassen, die sich Tropfen für Tropfen mit Wut füllte. Die Stille des Hauses summte in ihrem Kopf und machte alles Geschehene im Nachhinein noch unwirklicher. Nur das Brennen in ihren Fingerspitzen blieb als Beweis, dass es wirklich passiert war.
Warum geschah es jetzt, wo ihr keine Zeit mehr blieb?
Alles hatte sich auf einen Schlag verändert. Ihre Sicht auf die Welt, ihr Glauben und die Grenze all dessen, was sie für möglich gehalten hatte. Aber wofür? Kjell war verschwunden, und für sie konnte jeder Atemzug der letzte sein.
Noch immer spürte sie die weißleuchtenden Schuppen unter ihren Fingerspitzen, die so glatt waren, als seien sie mit Lack überzogen. Sie berührte in Gedanken noch einmal die seidige Fischhaut dazwischen, die filigranen Flossen rechts und links an seinen Hüften, dann die Finger mit den Häuten dazwischen und den kristallenen, spitz zulaufenden Nägeln. Besonders seltsam waren die Stacheln entlang seiner Wirbelsäule, die wie elfenbeinerne, mit zarten Häuten verbundene Spitzen aussahen und so scharf waren, dass sie es nicht gewagt hatte, sie zu berühren.
Zu spät.
Ihr Traum war Wirklichkeit geworden. Sie wusste nun, dass die Welt voller Wunder und Rätsel war, und sie hatte eines dieser Rätsel berührt. War all das nicht mehr als ein Abschiedsgeschenk?
Sieh her, was alles möglich ist. Und jetzt stirb.
Fae grub ihre Finger in das Fell der dösenden Katze und biss sich auf die Lippe, um nicht schreien zu
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