Die Seelenjägerin
reisen.
Allerdings wollten sie in die Berge, die in jeder Hinsicht voller Gefahren waren, und da war eine zweite, gut bewaffnete Reisegesellschaft so willkommen, dass man gewisse Meinungsverschiedenheiten gerne übersah. Banden von Wegelagerern gab es überall, aber auf den vielfach gewundenen Bergstraßen des Hochlands mussten sich Reisende doppelt in Acht nehmen. Hätten nicht sowohl Netando wie Ursti vorgehabt, bestimmte Waren einzukaufen, die nur im Gebirge erhältlich waren, sie hätten diese Region wahrscheinlich gemieden.
Am ersten Tag der Reise ritt Andovan mit den anderen Kundschaftern weit voraus und suchte nach Hinweisen, ob die Karawane beobachtet wurde. Es war eine anstrengende Tätigkeit, besonders in seinem Zustand, und sie wurde noch anstrengender, weil er seine Schwäche auf keinen Fall zeigen wollte. Aber seine Erfahrung als Waldläufer kam ihm sehr zugute, und mehrmals konnte er aus abgewetzter Baumrinde und niedergetrampeltem Boden Genaueres entnehmen, wo seine Gefährten nur darauf zeigen und sagen konnten: »Schau, da war jemand.«
Bisher war alles ruhig geblieben, und die Spuren, die Menschen in der näheren Umgebung hinterlassen hatten, waren alt. Hatte ihn vielleicht die Göttin Lianna unter ihre Fittiche genommen?
Er hatte der Hexe Lianna nicht den ganzen Mythos erzählt; vielleicht kannte sie ihn ja. Lianna kam, so erzählte man sich, jedes Jahr im Frühling auf die Erde herab, um mit ihrem Halbbruder Umbar zu kämpfen, der in den Wintermonden die Herrschaft über das Land für sich beanspruchte. Die Auseinandersetzung war von großer Heftigkeit. Die Erde erbebte unter den Füßen der Menschen, und wenn Umbars Eis durch die Zuckungen in Stücke gerissen und von kalten, schnell fließenden Flüssen davongetragen wurde, schallte gequältes Stöhnen durch die Nordlande. Dennoch war Liannas Sieg nicht vollkommen, denn noch war die Erde kalt, und schließlich musste sie sich in das Bett ihres Halbbruders legen und ihn verführen, damit die Hitze ihrer Leidenschaft den Boden erwärmen und die helle Sommersonne für ein halbes Jahr den Himmel erobern konnte.
Bei sich hatte Andovan den Verdacht, der Gott des Winters hätte sich schon längst mit seiner alljährlichen Niederlage abgefunden und setzte den Kampf nur noch fort, um sich mit der Göttin vergnügen zu können … aber das war eine andere Geschichte.
Die sterbliche Lianna war ihm wahrhaftig ein Rätsel. Er war während der ganzen Reise wie besessen von ihr! Und als er schließlich hörte, wie Netando ihre Hexenkünste erwähnte, wurde die Besessenheit noch stärker. Wer war sie wirklich? Warum reiste sie mit dieser merkwürdigen Karawane? Anfangs hatte er gedacht, sie stünde in irgendeiner Verbindung zu seiner geheimnisvollen Krankheit, doch sein Instinkt versicherte ihm, dem sei nicht so. Hätte ihn Colivars Zauber sonst nicht gewarnt? Dann hatte er sie und Netando für ein Liebespaar gehalten (und deshalb unerwartet einen Stich von Eifersucht verspürt), doch seit er die beiden genauer hatte beobachten können, war er auch davon wieder abgekommen. Ob sie sich für Andovan interessierte? Das hätte seinem männlichen Stolz geschmeichelt, aber er konnte nie ganz sicher sein. Wobei es durchaus Momente gab, in denen deutlich wurde, dass ihr solche Gedanken nicht fern lagen. Er sah es am kurzen Aufblitzen in ihren Augen, wenn sie mit ihm sprach, spürte es, wenn ihre Hand länger als nötig auf seinem Arm ruhte, und erkannte es an tausendundein weiteren Signalen weiblichen Begehrens, die ein viel umschwärmter junger Prinz schon früh zu deuten lernte. Doch ebenso deutlich war, dass keine Tür für ihn geöffnet wurde. Sie mochte mit einem kurzen Feuerfunken sein Interesse entfachen, doch der Funke erlosch sofort wieder, und die stählernen Mauern um ihre Seele schlossen sich.
Sie war mindestens einmal seelisch schwer verwundet worden. Er war solchen Frauen schon früher begegnet und kannte die Anzeichen. Und wenn sein Verdacht bei dem Zwischenfall mit dem Kind im Dritten Mond richtig gewesen war und man auch dieser Hexe schon in jungen Jahren Gewalt angetan hatte … dann war es kein Wunder, wenn sie den Männern nicht traute. Oder sich mit der Vorstellung, mit einem von ihnen das Lager zu teilen, nicht so ohne Weiteres anfreunden konnte.
Das allein reizte ihn schon auf eine ungewohnte und verwirrende Weise. Er war in einer Welt aufgewachsen, in der Frauen leicht zu haben waren. Wenn sie nicht sofort seinen männlichen Reizen
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