Die Seelenjägerin
Gesicht und beobachtete die Straße vor sich mit ihren besonderen Sinnen.
Talesin sah elend aus, obwohl er sich sehr bemühte, es zu verbergen. Das schlechte Wetter zehrte offenbar noch mehr als üblich an seinen Kräften, und sie sah, wie schwer es ihm fiel, vor den anderen Bewachern auch weiterhin den kräftigen jungen Mann zu spielen. Sie hatte ihn am Abend zuvor beiseite nehmen und nach der Ursache seiner Schwäche suchen wollen – es gab nicht viel, was sie nicht heilen konnte, wenn sie sich wirklich Mühe gab –, aber das Schicksal war ihr nicht hold gewesen. Heute Abend , versprach sie ihm stumm. Heute Abend werde ich herausfinden, was dich quält, und die Ursache beseitigen. Das war sie ihm schuldig, schließlich hatte er im Dritten Mond das kleine Mädchen gerettet … und das, obwohl er sich, wie sie jetzt wusste, nicht einmal hätte verteidigen können, falls einer der Männer auf ihn losgegangen wäre. Alles in allem hatte er bemerkenswert viel Mut bewiesen.
Sie spürte, dass er es nicht gewohnt war, so schwach zu sein. Er bewegte sich wie ein Mann, der sich seiner Körperkräfte nicht nur bewusst war, sondern sie für selbstverständlich hielt. Ein offenkundiger Widerspruch, der ihre Neugier reizte. Sie freute sich über das Funkeln in seinen Augen, als er sich zum Abschied wie ein vornehmer Herr mit dem Finger an die Stirn tippte, bevor er davonritt und im Nebel verschwand. Warum war er am Abend zuvor nicht zu ihr gekommen? Hatte sie seine Absichten missdeutet? Sie hatte stundenlang auf ihn gewartet, hatte bis tief in die Nacht hinein in der Schankstube gesessen und sich unzählige Geschichten über Kämpfe und Siege auf verschiedenen Märkten angehört, aber er war nicht aufgetaucht, um nach ihr zu suchen. Später hatte sie einen Spaziergang durch den Innenhof gemacht, um zu sehen, ob er sich dort irgendwo versteckte, aber alle Ecken waren leer gewesen.
Sie konnte sich nicht nach ihm erkundigen, ohne mehr über ihre Beziehung preiszugeben, als die anderen zu wissen brauchten, und so hatte sie schließlich das Zimmer aufgesucht, das man ihr zugewiesen hatte. Sie musste es sich mit mehreren anderen Männern teilen. Netando war nicht ganz sicher gewesen, ob sie damit einverstanden wäre, aber sie wusste, dass die Herberge durch die Doppelkarawane voll ausgelastet war, und außerdem war es ihr ziemlich gleichgültig, wo sie schlief. Sie hatte mit einem starken Zauber sichergestellt, dass sie auch dann noch als Junge gesehen würde, wenn sie vor allen anderen einen Säugling an der Brust hätte. Zur Probe hatte sie sich nackt ausgezogen und mitten ins Zimmer gestellt, bis das Waschbecken frei war. Einer der Männer hatte eine derbe Bemerkung über das Schamhaar junger Männer gemacht – sie hatte sie nicht verstanden, aber es war offensichtlich ein alter Männerwitz –, doch sonst hatte ihr niemand einen zweiten Blick gegönnt. Eine ungewohnte Erregung überkam sie, es war nur eine Kleinigkeit, aber es bereitete ihr eine seltsame Genugtuung, die anderen so leicht täuschen zu können.
Am Morgen ergab sich keine Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen, die Zeit reichte gerade für ein Frühstück. Nachdem sie mit ihrer Hellsehergabe rasch überprüft hatte, ob vor den Toren etwas wartete, um sie aufzufressen – was nicht der Fall war –, formierte sich die Karawane wie am Tag zuvor, und sie befand sich an einem Ende der Gruppe und Talesin am anderen.
Mehrere Stunden lang folgten sie einer Straße über den Höhenzug, während der Nebel immer dichter und die Sicht nach vorne immer schlechter wurde. Nach einer Weile sah Netando ein, dass menschliche Augen in diesem Nebel nicht viel ausrichten konnten, und rief die Kundschafter zurück. Nun kam die Hexerei ins Spiel. Kamala wusste aus den Karten, die Netando ihr gezeigt hatte, dass bald zu beiden Seiten steile Berge aufragen würden. An diesem Punkt führte die Straße hinab in ein Netz von Tälern und zeitweise trockenen Flussbetten, das die wenigen begehbaren Pässe miteinander verband. In dieser Region war die Gefahr von Überfällen am höchsten, besonders an jenen Engstellen, wo sich die Karawane weit auseinanderziehen musste und Sturzfluten zu dieser Jahreszeit ebenso zu fürchten waren wie Wegelagerer. Vor Überschwemmungen zu warnen war für sie ein Kinderspiel, denn eine Flut, die am Nachmittag über sie hereinbräche, baute sich bereits am Morgen auf und konnte leicht entdeckt werden. Mit menschlichen Plänen war es anders. Die
Weitere Kostenlose Bücher