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Die Seelenjägerin

Die Seelenjägerin

Titel: Die Seelenjägerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Celia Friedman
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sonst, alles war falsch.
    Er hämmerte gegen die Haustür, bis sie nachgab. Niemand antwortete auf sein Rufen. Er stolperte ins Innere und stieß dabei einen Schemel um. Heiße Tränen der Angst liefen ihm über die Wangen. Niemand sah den Schemel über den Boden schlittern, niemand hob den Fuß, um ihn wegzustoßen, niemand schimpfte, weil er ihn umgeworfen hatte.
    Seine Mutter saß auf der Bank vor dem groben Holztisch, der in der Mitte des kleinen Raumes stand. Sie war zusammengesunken, ihr Kopf lag neben einem trockenen Brotkanten auf der Tischplatte. Ihr Gesicht wirkte fast friedlich, wenn man die frischen Blutergüsse übersah; hätte der Junge nicht eben noch genügend Lärm gemacht, um selbst Tote aufzuwecken, er hätte gedacht, sie schliefe nur. Seine kleine Schwester war neben ihr von der Bank gerutscht und lag wie eine zerbrochene Puppe auf dem Boden. Ein Stückchen Brot war ihr aus der Hand gefallen und bis vor die Feuerstelle gerollt. Ein paar schwarze Pünktchen daneben mochten Insekten gewesen sein. Auch sie bewegten sich nicht.
    Erstickende Schwüle hing über dem kleinen Raum. Der Junge hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, die Stille schien lebendig zu sein und ihm das Leben auszusaugen. Er musste sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen und alle Winkel des Häuschens abzusuchen, in denen ein verängstigtes Kind versteckt sein mochte. So fand er schließlich den Leichnam seines jüngsten Bruders, der fast noch ein Säugling gewesen war. Der kleine Körper lag ausnahmsweise ganz friedlich da, anstatt wie zu seinen Lebzeiten unentwegt aus Leibeskräften zu brüllen, weil er hungrig war und wieder einmal niemand seine Bedürfnisse stillte. Wie der Tod die Menschen in diesem Haus auch geholt haben mochte, er hatte sich klammheimlich eingeschlichen, und niemand hatte ihn bemerkt.
    War den übrigen Bewohnern des Dorfes das Gleiche widerfahren? Waren auch in den anderen Häusern nur noch Leichen zu finden?
    Der Junge hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Gleich würde er sich übergeben müssen, nicht weil er krank war, sondern aus Angst. Er steuerte wie gewohnt auf die Tür zu, um das Haus nicht zu beschmutzen und dafür von seinem Vater verprügelt zu werden. Doch dann bemerkte er draußen eine flüchtige Bewegung und war so verdutzt, dass er seine Übelkeit vergaß. Sein Magen beruhigte sich, und auch die Angst trat in den Hintergrund.
    Eine Bewegung! Etwas hatte sich bewegt! Das musste doch heißen, dass da draußen noch etwas am Leben war!
    Hastig stolperte er zur Tür. Hoffentlich war das, was er gesehen hatte, nicht schon wieder verschwunden. Aber nein, es war noch draußen auf der Straße, ein geflügeltes Wesen, etwa so groß wie ein Vogel, und als er aus der Tür trat, flog es auf ihn zu, hielt dicht vor seinem Gesicht an und schlug mit bunten Flügeln rasche Muster in das erlöschende Sonnenlicht.
    Von Weitem hätte er es für eine Libelle gehalten, denn es hatte einen langen, schlanken Körper und zwei Paar zart geäderter, durchsichtiger Flügel. Aber für eine Libelle oder ein anderes Insekt war es viel zu groß, und der Kopf glich eher dem einer Eidechse. Oder vielleicht einer Schlange. Der biegsame Körper war von einem tiefen bläulichen Schwarz, wo das Licht der untergehenden Sonne darauf fiel, leuchtete er violett auf und schien zu erzittern. Das Wesen bewegte die spinnwebfeinen Flügel rasend schnell auf und ab, um sich auf gleicher Höhe mit seinem Gesicht zu halten. Diese Flügel waren wunderschön! Wie buntes Glas schillerten sie im Sonnenlicht in allen Blau- und Rottönen. Die gleichmäßig schnelle Bewegung wirkte einschläfernd, und der Junge fühlte sich trotz seiner Angst davon angezogen und konnte sich nicht mehr losreißen. Er spürte, wie ihn von irgendwoher zwei schwarze Augen ansahen und ahnte die aufkeimende Intelligenz darin. Wenn er ihren Blick erwiderte, könnte neues Entsetzen über ihn hereinbrechen, und so hielt er die Augen auch weiterhin unverwandt auf die bunten Flügel gerichtet und beobachtete das Spiel des Abendlichts auf den feucht glänzenden Membranen.
    Hatte er sich nicht eben noch gefürchtet? War in seinem Dorf nicht etwas geschehen? Er dachte angestrengt nach, aber die Erinnerung entschlüpfte ihm wie ein nasser Aal. Das Wesen vor seinem Gesicht entzückte ihn. Ob es wohl einen Namen hatte? Und wenn nicht? Vielleicht war er der erste Mensch, der es jemals zu Gesicht bekam? Wenn er seiner Mutter davon erzählte, und sie sagte nein, es

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