Die Seelenjägerin
auf den Arm. »Ich kann mich doch darauf verlassen, dass du aufrichtig zu mir bist?«
Sein Blick begegnete dem ihren. Im Mondschein wirkten seine Augen schwarz und unergründlich tief, an der Oberfläche glitzernd wie Eis, aber darunter voller Schatten und düsterer Geheimnisse. Er ist wirklich zum Heiligen Hüter geworden , dachte sie. Sie beobachtete, wie er mit sich rang, welche Geheimnisse er wahren musste und welche er enthüllen durfte. Die Sorgfalt, mit der er seine Verpflichtungen gegeneinander abwog, verriet ihr mehr als alles andere, wie bedenklich die Lage tatsächlich war.
»Was würdest du sagen«, fragte er endlich, »wenn ich dir erzählte, dass ich einen Speer berührt habe?«
»Ich würde sagen, wenn die Heiligen Hüter es für erforderlich hielten …«
»Nein, nicht mit den Heiligen Hütern.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Allein, Gwyn. Keine Hüter, die mir zur Seite standen und mir Kraft verliehen, keine Magister, die mir die Hand führten … nichts.«
Sie zog scharf den Atem ein. »Das ist … das ist … unmöglich.«
»So heißt es«, sagte er ruhig.
»Wann war das?«
»Zu Beginn des Frühlings. Ich war auf dem Weg nach Hause, ritt an der Grenze des Verbotenen Landes entlang und verließ mich darauf, dass mein Pferd schon nicht vom rechten Weg abweichen würde. Tiere sind für die Macht der Götter noch empfänglicher als wir; nur ein Speerstich in die Flanken hätte den Hengst bewegen können, nach Norden abzubiegen. So dachte ich jedenfalls. Doch irgendwann blickte ich auf und sah in der Ferne einen schwarzen Felsen vor dem Horizont aufragen. Das Pferd hatte mich so nahe an einen Speer herangebracht, dass ich ihn deutlich erkennen konnte.« Er hielt inne, seine Züge verhärteten sich. »Kein Pferd tut das aus freien Stücken, Gwyn. Niemals. Die Tiere fürchten den Heiligen Zorn noch mehr als die Dämonen, und wir müssen sie oft zurücklassen, wenn wir uns den Speeren nähern, sie würden sonst vor Entsetzen völlig außer sich geraten. Doch diesmal schien es, als nähme das Pferd, das ich ritt, den Speer gar nicht wahr … so wenig, wie ich eine natürliche Felszinne bewusst wahrnähme.
Ich war schon so nahe, dass ich die Ausstrahlung des Speers hätte spüren müssen, aber da war nichts. Ich hätte die Schreie hören müssen, die von seinen Wurzeln aufsteigen, von den Narben, die das schwer verwundete Erdreich zeichnen … alle meine Instinkte hätten mich zur Flucht drängen müssen, zu haltloser Flucht, und ich hätte meine ganze Willenskraft gebraucht, um mich gegen diesen Drang zu wehren und das Ding auch nur anzusehen. Doch diesmal geschah nichts dergleichen. Vielleicht, dachte ich bei mir, hatte der erste Eindruck getrogen. Vielleicht war es doch kein Speer, sondern ein natürlicher Felsen, der nur etwa die gleiche Form hatte. Eine einfache Erklärung, die mir sehr viel lieber gewesen wäre.
Ich trieb mein Pferd weiter, um diese Laune der Natur genauer zu betrachten. Doch als wir näher kamen, stellten sich die Gefühle ein, die ich erwartet hatte, ich spürte im Geiste die Hand der Götter … aber sie war schwächer als sonst. Schwächer, als sie hätte sein dürfen.
Da wurde meine Seele von einer Angst erfasst, wie ich sie dir nicht beschreiben kann. Wenn dies wahrhaftig ein Speer war, wieso war er so geschwächt? Noch einmal trieb ich mein Pferd vorwärts, um mich zu vergewissern, aber jetzt wollte es keinen Schritt mehr tun. Ich musste es schließlich zurücklassen. Dennoch war der Hengst nicht völlig kopflos, wie es die Tiere so dicht am Rand des Heiligen Zorns gewöhnlich sind. Das war ein schlechtes Omen.
Vorsichtig tastete ich mich zu Fuß weiter, und als ich näher kam, umfing mich endlich doch der Heilige Zorn. Oh, Gwyn, du kennst diesen Zustand nicht, du weißt nicht, wie es ist, wenn man durch keinen Zauber gestützt wird! Ich kann es am ehesten beschreiben wie ein verheerendes Unwetter, bei dem man sich gegen den Wind lehnen muss, um nicht von den Beinen gerissen zu werden. Für jeden Schritt nach vorne wird man zwei Schritte zurückgedrängt. So war es auch mit dem Heiligen Zorn, denn die Wut der Götter ist stark, und kein Lebewesen kann ihrer Macht standhalten. Entsetzen erfüllte mein Herz, doch ich wusste, ich musste weitergehen und so viel wie möglich in Erfahrung bringen, um meinem Orden Bericht zu erstatten.«
Gwynofar nickte ernst. Die Geschichte hatte sie in ihren Bann geschlagen. In ihrer Jugend hatte sie sich so dicht an die
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