Die Seelenkriegerin - 3
noch einmal umzusehen, trat er hinein. Die Luft kräuselte sich wie Wasser und beruhigte sich erst wieder, als das Portal verschwand. Das Knochenstückchen fiel hinter ihm in den Sand. Kamala ging hin, hob es auf und verstaute es sorgfältig in ihrem Wams.
Sie wusste, dass Colivar nur wenig Aussicht hatte, lebend zurückzukehren. Auch ihm selbst war das sicherlich klar. Bei einem Moratus hätte sie angenommen, er habe sich mit dem Tod abgefunden. Aber für einen Magister war eine solche Einstellung nicht möglich. Also wollte er sich nicht einfach nur opfern, sondern hatte vielschichtigere Motive. Vielleicht ein verzweifelter Wunsch nach Freiheit. Die Hoffnung, die Schatten der Vergangenheit abzuwerfen, die ihn so viele Jahrhunderte lang verfolgt hatten, dass er nicht mehr wusste, wie es war, ohne sie zu leben. Das seltenste und kostbarste Ziel, das ein Mensch anstreben konnte: die Gelegenheit, von vorne anzufangen.
Dafür könnte jeder Mensch sein Leben riskieren. Sogar ein Magister.
Hätte sie an einen Gott geglaubt, dem das Wohl von Magistern am Herzen lag, dann hätte sie vielleicht für Colivar gebetet. So konnte sie nicht mehr tun, als seinen Ring auf ihren rechten Daumen zu schieben – den einzigen Finger, auf den er passte – und abzuwarten.
Siderea träumte, die Götter zürnten ihr. Sie hatte diesen Traum nicht zum ersten Mal, aber gewöhnlich belastete er sie nicht weiter. Wenn es in Jezalya tatsächlich Gottheiten gab, die etwas gegen ihre Anwesenheit einzuwenden hatten, dann hatten sie sich bisher als zu machtlos oder einfach als zu gleichgültig erwiesen, um etwas dagegen zu unternehmen. Daraus zog sie den Schluss, dass ihre Albträume nicht mehr als Albträume waren und keine größere Bedeutung hatten.
Doch der heutige Traum war anders.
Sie erwachte mit einer Angst, die zugleich unerklärlich und nicht abzuschütteln war. Als wüsste sie, dass etwas in ihrer unmittelbaren Umgebung irgendwie falsch war, ohne es festmachen zu können. Sie blieb ganz still auf ihrem Bett liegen und versuchte, das Gefühl einzukreisen, um zu ergründen, woher es kam. In ihrem Schlafgemach selbst und in den angrenzenden Räumen schien alles in Ordnung zu sein, in der näheren Umgebung des Palastes ebenfalls. Sie nahm Verbindung zu ihrer Konjunkta auf, um zu sehen, ob womöglich deren Aufregung in ihr Bewusstsein gedrungen war, aber die Ikati-Königin schlief noch; Siderea spürte sie nur als dumpfen, warmen Druck in ihrem Geist.
So weit schien alles gut zu sein.
Und doch auch wieder nicht.
Siderea beschwor ihre Macht, schickte ihre Sinne bis nach Jezalya aus und suchte nach Unregelmäßigkeiten, die ihre Unruhe vielleicht hätten erklären können. In den meisten Teilen der Stadt herrschte Ruhe. Jemand hatte eine ansässige Hexe beauftragt, die Ratten vom Fleischmarkt fernzuhalten, und eine zweite belegte gerade den Wagen eines Händlers mit einem Reisezauber, der jeden Dieb veranlassen würde, sich ein anderes Opfer zu suchen. Bis auf diese wenigen Funken von Hexerei schien an dem Morgen nichts vorgefallen zu sein.
Doch das stimmte nicht. Sie spürte es.
Siderea schloss die Augen und rief den nächsten Vogel zu sich. Wenig später landete eine Taube an ihrem Fenster. An ihren bläulich schillernden Flügeln erkannte die Hexenkönigin, dass sie zu denen gehörte, die ihr ein beflissener Händler zum Geschenk gemacht hatte. Sie ließ sie in ihrem Garten frei fliegen, da sie wusste, dass es in der heißen, trockenen Stadt so gut wie keinen Ort gab, an den sie hätten fliehen können.
Behutsam drang sie in den Geist des Tierchens ein. Das wurde mit der Zeit immer schwieriger; durch ihre Bindung an ein großes Raubtier scheuten die pflanzenfressenden Vögel zunehmend vor ihrer Essenz zurück. Aber sie hatte viel Erfahrung, und so war sie wenig später im Bewusstsein des Vogels und konnte seine Bewegungen steuern und mit seinen Augen sehen. Wenn der Vogel dabei panisch mit den Flügeln schlug, konnte das ihre Konzentration nicht stören.
Sie flog aus dem Fenster und kreiste über der Stadt. Das erste Licht des Morgens kroch über den Himmel, was bedeutete, dass die Bewohner allmählich erwachten. Sie ignorierte all jene, die ihren gewohnten Tätigkeiten nachgingen, und suchte nur nach ungewöhnlichen Aktivitäten, fand aber nichts. Für die Bürger von Jezalya war dies ein Morgen wie jeder andere.
Als sie sicher war, dass im Rest der Stadt alles seinen gewohnten Gang ging, begab sie sich zum Haus der Götter.
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