Die Seelenkriegerin - 3
Die Restenergie, die sich dort wie eine Patina angesetzt hatte, machte es ihr schwer, irgendwelche Muster zu erkennen. An den uralten Wänden hafteten Spuren von Gebeten und Überreste zahlloser Rituale, die zum Teil auch magisch gewesen waren. Viele der Götterstatuen hatte man aus diesem oder jenem Grund mit Zaubern umgeben, und dort brodelte ein wahrer Hexenkessel von fremden Energien. Ein kleinerer Bannspruch fiele in einer solchen Umgebung kaum auf und wäre aus der Ferne nicht wahrzunehmen.
Doch als sie sich dem alten Tempel weiter näherte, wurde ihr klar, dass ihre Unruhe tatsächlich hier ihren Ursprung hatte. Sie fürchtete schon, die Quelle befände sich im Inneren des Hauses – konnte sie die Götter tatsächlich erzürnt haben? , fragte sie sich –, doch als sie den Vorplatz umrundete, entdeckte sie unweit davon einen Nachhall, als wäre dort soeben ein mächtiges Ritual zelebriert worden. Das Echo kam aus einem kleinen Wäldchen am Rand des Gebetsrondells, der einzigen Stelle weit und breit, wo ein Mensch sich – oder seine Magie – verbergen konnte. Zunächst umkreiste sie das Gebiet vorsichtig und suchte herauszufinden, ob der Übeltäter noch anwesend war, aber das Wäldchen war anscheinend leer. Also platzierte sie ihren Vogelkörper auf dem obersten Ast eines Baumes, klappte die Flügel ein und sammelte sich für die Aufgabe, die nun vor ihr lag. Dann griff sie in ihre Seele, formte ihre Macht zu einem Suchzauber und schickte ihn über das ganze Gebiet. Solange sie sich im Körper eines anderen Wesens befand, konnte sie keine individuellen Spuren der Person aufnehmen, die hier gewesen war; sie brauchte so viel Konzentration, um diesen Körper zu kontrollieren, dass sie nur eingeschränkt auf Feinheiten achten konnte. Anders verhielt es sich mit dem Zauber, der hier gewirkt worden war. Wenn man mit Magie ein Loch in die Wirklichkeit riss, ließ sich das nicht so leicht verbergen, und die metaphysische Narbe, die zurückblieb, wenn sich das Loch wieder schloss, war für eine geschulte Hexe nicht zu übersehen. Sie konnte nicht sagen, wer das Loch gemacht oder welche Art von Macht derjenige dafür verwendet hatte, aber der Zweck war klar.
Hier war ein Portal beschworen worden.
Sie zog sich aus der Taube zurück und hörte das Tierchen überrascht glucksen, als es seinen Körper so plötzlich wiederbekam. Siderea blieb weiter auf ihrem Bett liegen und befasste sich mit den Folgen und Auswirkungen des eben Erlebten. Sie hatte überall in der Stadt Abwehrzauber installiert, die sie vor fremder Magie warnen sollten, lediglich in der unmittelbaren Umgebung des Hauses der Götter hatte sie darauf verzichtet. Dort wäre ein solcher Zauber wertlos gewesen, denn die Priester und Pilger, die an diesem Ort ihre Rituale verrichteten, hätten den Alarm zehn Mal am Tag ausgelöst. Die Beschwörung eines Portals gleich neben dem Haus der Götter hätte also keinen metaphysischen Aufruhr verursacht und sie folglich auch nicht aus dem Schlaf reißen dürfen. Es musste einen anderen Grund geben. Hatte jemand versucht, ihre persönliche Abwehr zu durchdringen? Derjenige vielleicht, der durch das Portal gekommen war?
Keine voreiligen Schlüsse , ermahnte sie sich. So manche mächtige Hexe hatte die Missdeutung einer solchen Situation mit dem Leben bezahlt; sie hatte nicht vor, sich zu ihnen zu gesellen.
Sie schickte einen Funken Macht aus, um eine der Palasthexen, eine junge Frau namens Hameh, zu wecken. Als diese eintraf, hatte Siderea sich einen seidenen Morgenmantel übergeworfen und mit einem Hauch von Magie ihr vom Schlaf zerzaustes Haar geglättet. Im Palast durfte man sie nur in bester Verfassung sehen, das war Teil ihrer geheimnisvollen Ausstrahlung. Die junge Frau, die ihrem Ruf gefolgt war und sich noch den Schlaf aus den Augen rieb, war in deutlich schlechterem Zustand.
»Hoheit.« Die Hexe legte die Hände an die Stirn und verneigte sich tief, wie es im Süden der Brauch war. »Wie kann ich Euch dienen?«
»Vor dem Haus der Götter wurde ein Portal benützt. Ich muss wissen, ob einer unserer eigenen Leute damit zu tun hatte. Und die Erkundigungen sollten diskret durchgeführt werden, Hameh. Kannst du das für mich erledigen?«
Die junge Frau verneigte sich abermals. »Natürlich, Hoheit. Falls es allerdings wirklich geheim bleiben soll, müsst Ihr Euch ein wenig gedulden. Wenn ich die Hexen der Stadt aufwecke und ihnen Fragen stelle, werden sie sofort merken, dass etwas nicht stimmt.«
»Schon
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