Die Seelenkriegerin - 3
Kampfregeln?«
»Nein. Die gelten bloß für Kriegszeiten. Wir brauchen etwas Allgemeineres. Etwas Grundlegenderes. Etwas, das uns helfen kann, unsere niederen Instinkte zu zügeln, wenn sie übermächtig werden, sodass offene Kämpfe nicht mehr stattzufinden brauchen. Oder zumindest …« Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. »… nicht mehr ganz so oft.«
»Wir sind keine Morati«, blaffte Colivar.
»Nein … aber das heißt doch nicht, dass wir nichts von ihnen lernen können. Durch ihre Rechtsnormen unterscheiden sich die Morati von den Tieren. Vielleicht könnten solche Normen das auch für uns leisten.«
Aber das Tier in einem Magister ist Teil seiner Seele , grübelte Colivar. Das konnte der Fremde natürlich nicht begreifen. Keiner von den anderen Magistern konnte das. Und er hatte nicht vor, es ihnen zu erklären. »Wie willst du diese Normen durchsetzen?«, wollte er wissen. Und bemühte sich, mehr auf die Worte des Fremden zu hören als auf die Erinnerungen, die sie heraufbeschworen. »Welche Autorität werden Magister deiner Meinung nach anerkennen?«
»Es wäre ein einvernehmlicher Beschluss erforderlich.«
Colivar war zunächst sprachlos. Dann stieß er hervor: »Ein Beschluss … dem wir alle zustimmen?«
Der Fremde nickte.
»So viel Einmütigkeit gäbe es nicht einmal bei den Morati.«
»Sind wir den Morati denn nicht überlegen?«
Colivar schüttelte fassungslos den Kopf. »Manch einer würde dich allein wegen eines solchen Vorschlags für verrückt erklären.«
»Während ich mich eher als pragmatisch bezeichnen würde.«
Wir sind nicht einmal fähig, mit unseresgleichen ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu führen, ohne dass die tierischen Instinkte die Herrschaft übernehmen. Was für ein Gesetz stellst du dir für unsere Bruderschaft vor? Und wie willst du die bestrafen, die es brechen?
Doch die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Denn der Vorschlag, so verrückt er war, schlug tief in seinem Inneren eine Saite an. Eine menschliche Saite. Und für einen Moment – einen Moment nur – schwieg das Tier in ihm, und er konnte plötzlich klar denken.
»War das deine Idee?«, stieß er endlich hervor.
Der Fremde schüttelte den Kopf. »Nicht allein. Doch nur wenige sind in so hohem Maße wie ich für Botendienste geeignet, deshalb habe ich diese Aufgabe übernommen. Sie erfordert …« Ein schwaches Lächeln spielte erneut um seine Lippen. »… ungewöhnlich viel Selbstbeherrschung.«
Angenommen, alle anderen würden sich zu diesem Projekt zusammenschließen , schoss es Colivar durch den Kopf, und ich wäre als Einziger dazu nicht fähig? Mit einem Mal wurde ihm schmerzlich bewusst, dass ihn eine tiefe Kluft von seinen Standesgenossen trennte. Wäre dieser Fremde mit seinem Angebot auch zu ihm gekommen, wenn er die Wahrheit über ihn wüsste? Würde er überhaupt wollen, dass Colivar sich an seinem Projekt beteiligte?
»Es wird sehr lange dauern«, wandte er ein.
»Mag sein. Aber Zeit haben wir schließlich mehr als genug, nicht wahr?«
»Und das letzte Ziel ist … was? Eine große Versammlung einzuberufen, damit wir in trauter Gemeinsamkeit ein Gesetzeswerk entwickeln können?« Er lachte rau. »Wir würden einander in Stücke reißen, bevor noch das erste Wort auf dem Papier stünde.«
»Aha.« Ein Lächeln – kalt und freudlos – huschte über das Gesicht des Fremden. »Hierin liegt nämlich der Unterschied zwischen dir und mir. Ich glaube, dass Magister ihre instinktive Blutgier überwinden können, wenn es gelingt, sie von der Notwendigkeit zu überzeugen. Und wenn der Wille stark genug ist, könnte es einigen von uns eines Tages sogar gelingen, sich wie zivilisierte Menschen zusammenzusetzen und Themen von gemeinsamem Interesse zu erörtern, ohne dass uns unsere niederen Triebe ins Handwerk pfuschen. Wäre das nicht ein erstaunlicher Fortschritt?«
»Und du glaubst wirklich, dass all das durch die Aufstellung von Regeln möglich wird?«
Der Fremde wurde ernst. »Die Macht dazu liegt nicht in dem Gesetz an sich, Colivar. Sondern darin, wie wir uns verändern müssen, um es einzuführen.«
In der Ferne krächzten die Raben. Irgendwo zwischen den Leichen stöhnte ein Sterbender. Colivar schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche, um etwas Ruhe in den Sturm von Gefühlen zu bringen, der in seiner Seele tobte. Es war, als stünde er an einem Scheideweg und spähte ins Dunkel, um wenigstens in Umrissen zu erkennen, was vor ihm
Weitere Kostenlose Bücher