Die Seelenkriegerin - 3
Sie bevorzugten schroffe Berge für ihre Nistplätze. Sie brauchten eine Wasserquelle in mehr oder weniger freiem Gelände, wo sie ihre gewaltigen Schwingen bewegen konnten, wenn sie zum Trinken kamen. Und da sie sich mittlerweile ausschließlich von Menschen ernährten, legten sie sicherlich Wert darauf, dass eine Siedlung in der Nähe war. Während des Ersten Königtums waren sie von den großen Städten der Menschen angelockt worden wie die Fliegen vom Honig.
Sie folgte mit den Augen den Gebirgsketten und hielt an jedem See und jedem Fluss an, der durch eine weite Ebene floss. Aber wie viele kleinere Seen und Flüsse würden ihr bei diesem Maßstab entgehen? Mithilfe ihrer Zauberkräfte suchte sie nach größeren Gruppen von menschlichen Behausungen. Aber wie viele Morati an einem Ort brauchte ein Seelenfresser, um seinen Hunger zu stillen? Sie überlegte, welches Klima die Ungeheuer bevorzugten. Würden sie so weit nach Süden flüchten, wie sie konnten, um dem Fluch zu entgehen, der sie einst fesselte, oder würden sie im Norden bleiben, wo gerade jetzt im Sommer die Tage am längsten waren? Wie weit müssten sie sich in diesem Fall vom Heiligen Zorn entfernen, um sich sicher fühlen zu können?
Langsam, Zoll um Zoll, arbeitete sie sich auf diese Weise durch die Karte und löschte alle Standorte, die ihren Anforderungen nicht entsprachen. Manchmal musste ein ganzer Gebirgszug verschwinden, manchmal bloß eine einzelne Schlucht.
Als sie fertig war, betrachtete sie schweigend das neu entstandene Bild.
Schön. Nun brauche ich bloß noch die halbe Welt abzusuchen. Ein Fortschritt.
Es war eine gewaltige Aufgabe, aber sie musste es versuchen. Eine bessere Möglichkeit gab es einfach nicht. Was sollte sie auch sonst mit ihrer Zeit anfangen? Däumchen drehen und Paläste auf Berggipfeln errichten, wie es einige der Magister offenbar taten? Dieses Unternehmen hatte wenigstens einen Sinn.
– Und plötzlich war sie für einen herzbewegenden Moment wieder auf Rhys’ Trauerfeier und schaute auf seinen Leichnam nieder. Erinnerte sich an die Leere und den kalten Kuss des Neides, den sie damals verspürt hatte.
Jetzt habe auch ich ein Ziel.
Sie schrieb an Colivar, bevor sie sich ans Werk machte. Eine einfache Nachricht, die sie mit Zauberei in ihrem geheimen Versteck deponierte. Welches Gelände bevorzugen die Seelenfresser? , schrieb sie. Ich brauche alles, was Ihr darüber wisst. Stellt keine Vermutungen an, was wichtig sein könnte und was nicht, teilt mir alles mit. Favias hatte ihnen in Keirdwyn einen Überblick gegeben, aber sie glaubte nicht, dass er über die Lebensgewohnheiten der Ikati so gut Bescheid wusste wie Colivar. Sie bezweifelte allmählich, dass irgendjemand sich in dieser Hinsicht mit Colivar messen konnte.
Bis sie eine Antwort bekam, konnten allerdings Tage vergehen. Falls er überhaupt antwortete. Wozu so viel Zeit vergeuden? Sie legte sich ins Zentrum der riesigen Landkarte und beschwor sich ein Kissen für ihren Kopf und ein wenig Proviant und Wasser. Dann schloss sie die Augen, seufzte noch einmal tief auf und schickte ihre magischen Sinne zu dieser aussichtslosen Suche in die Welt hinaus.
Kapitel 10
Die Wüstenregion war auf der zimmergroßen Karte ein Feld aus makellos geschliffenen blitzenden Diamanten. Im Osten der Wüste erschien hinter einer großen Kette aus schwarzen Onyx-Bergen ein schmales Band aus Smaragden, das fruchtbare Schwemmland des großen Lebensflusses im Süden. Glatte Chrysokoll-Fliesen bildeten das Wasser. Im Norden der Wüste erhob sich über dem Diamantsand eine Stadt aus Gold und Silber, deren himmelhohe Bauwerke jetzt im Schein der Abendsonne erglänzten. Der Chrysokoll-Fluss schlängelte sich in engen Windungen durch die riesige Karte, an jeder Biegung befand sich eine prächtige Stadt. Da war auch schon das Tränenmeer aus Lapislazuli. Nördlich davon war jede Nation mit einem eigenen Halbedelstein vertreten. Amethyst für Sankara, Topas für Sendal, blauer Chalzedon für Corialanus. Dem Großkönigreich war der Jaspis zugewiesen, und jeder Vasallenstaat bestand aus einer anderen Abart dieses Steins. Ein aufmerksamer Beobachter konnte feststellen, dass die Oberfläche dieser Nation besonders glatt war, die Gebirge zeigten sich als Bänder aus flachen schwarzen Steinen, und das Ganze war so blank poliert, dass es feucht glänzte. Ein kundiger Beobachter mochte erkennen, dass man über eine solche Oberfläche sehr viel leichter Figuren für militärische Planspiele
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