Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
ganz und gar nicht sicher. Dies könnte die größte Dummheit seines ganzen Lebens werden. Nur ein Irrer würde einen solchen Plan in Erwägung ziehen.
Er schaute zurück, sah Nyuku auf dem Boden liegen und dachte an die Nacht, als der Mann seinen Ikata getötet hatte. Er sah sich wieder mit weit ausgebreiteten Armen auf den Heiligen Zorn zugehen, als wollte er ihn umarmen, spürte, wie ihm die Tränen auf den Wangen gefroren, hörte die Stimmen der ermordeten Hexen und Hexer in seinem Kopf lärmen, hörte sich selbst um den Tod flehen … und seine letzten Zweifel verschwanden. Sie ertranken in einem Rachedurst, der primitiver und übermächtiger war, als menschliche Zweifel es jemals sein konnten.
Die Götter haben dir dieses Geschenk gemacht , sagte er sich. Du kannst die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Er nahm all seinen Mut zusammen und trat vom Fenstersims ins Leere. Einige Zuschauer keuchten erschrocken auf, aber er verwandelte sich, bevor er auf dem Boden aufschlug. Es war keine schwierige Transformation; seine Seele erinnerte sich an die Gestalt, als wäre er in ihr geboren worden. Er brauchte lediglich all die Teile seines Bewusstseins auszuschalten, die menschlich waren, und sich von den uralten Erinnerungen ganz und gar in Besitz nehmen zu lassen. Alles aufzugeben, wozu er in den letzten Jahrhunderten geworden war, und in den einen Zustand zurückzukehren, den er am meisten fürchtete – und ersehnte.
Die wenigen Stadtbewohner, die nicht schon angesichts der Verwandlung schreiend davongelaufen waren, sahen nun einen gewaltigen Seelenfresser über ihrer Stadt aufsteigen. Er flog einen großen Kreis über der Wüstenebene und strebte dann nach Westen, der Duftfährte seiner Brüder nach. Schon bald war er nicht mehr zu erkennen.
Die Kampfrufe von annähernd zwei Dutzend Seelenfressern waren so durchdringend schrill, dass den Menschen die Ohren schmerzten. Die Tiere schienen die Menschen unter sich nicht wahrzunehmen, gelegentlich ließ sich einer sogar so weit hinabfallen, dass er mit seinen Schwingen den Sand zu ihren Füßen aufwirbelte. Ramirus sah einige der Hexen und Hexer zusammenzucken, wenn ihnen die Bestien so nahe kamen, während die Heiligen Hüter kaum erwarten konnten, ihre Aufgabe hier zu erfüllen, und Salvator und Favias immer wieder mit hoffnungsvollen Blicken um die Erlaubnis zum Angriff baten. Aber niemand würde zum Sturm auf die Ikati aufrufen, bevor Kamala nicht versucht hatte, sie von Jezalya wegzulocken; ein verletzter Seelenfresser könnte auf seinen Angreifer aufmerksam werden und womöglich zurückbleiben.
Alle sahen erleichtert, dass die Seelenfresser Kamala tatsächlich folgten, als sie endlich wieder auftauchte. Sie führte die wilde Jagd nach Westen; die Lust- und Wutschreie entfernten sich und wurden immer leiser, bis sie schließlich vollends verklangen.
Nach den grässlichen Misstönen war die Stille eine wahre Wohltat.
Ramirus hatte mit Sidereas Seidentuch als Fokus einen eigenen Zauber zur Unterstützung der Hexen und Hexer gewirkt. Der hing jetzt wie ein dünner Nebel über der Barriere und sollte jeden Bann aufspüren, den Siderea etwa in die Wüste hinausschickte. Nun kam von diesem magischen Konstrukt eine Reaktion. Offenbar waren viele Zauber auf einmal abgesetzt worden und durchstießen nun gleichzeitig die Hexenbarriere und sein eigenes Werk. Der Nebelschleier kräuselte sich wie Wasser, in das man eine Handvoll Kieselsteine geworfen hatte, und als sich die Oberfläche wieder beruhigte, hatte er bereits festgestellt, um welche Zauber es sich handelte und was sie bewirken sollten.
Er wandte sich mit finsterer Miene an Salvator. »Alle Stämme wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Man hat ihnen befohlen, sich sofort nach Jezalya in Marsch zu setzen und auf ihrem Weg alles zu töten, was nicht dorthin gehört. Kurzum, uns.«
Favias fluchte leise. »Wie weit sind sie entfernt?«
Ramirus schüttelte den Kopf. »Das weiß ich noch nicht. Ich hatte den Eindruck, sie rechnen damit, schon sehr bald hier sein zu können; solange also unsere Kundschafter nicht Entwarnung geben, sollten wir auf das Schlimmste gefasst sein.«
»Sie werden von allen Seiten kommen«, murmelte Salvator.
Diese Entwicklung war nicht unerwartet. Tatsächlich hatten sie nur deshalb so viele Fußsoldaten mitgebracht, um für einen solchen Angriff gewappnet zu sein. Das hieß allerdings nicht, dass ein Überfall durch Stammeskrieger ihren Leuten nicht gefährlich werden
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