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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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Kopf.
    Sie hatte die merkwürdigsten Augen der Welt. Als Kind hatte sie bei einem Unfall das linke Auge verloren. Als sie erwachsen war, passte ihr ein italienischer Augenmacher ein neues gläsernes an, das jetzt seltsamerweise natürlicher aussah als das erhaltene rechte, das später von einer Krankheit ein wenig entstellt worden war und immer etwas tränte.
    »Was soll ich ihm denn sagen?«, bemerkte sie wie beiläufig. »Dass du dich heimlich mit ihm getroffen hast?«
    »Nein, bloß nicht!«, bettelte Margaret.
    Lady Alice war nicht Margarets richtige Mutter. Sie war eine zierliche Dame von fast vierzig, mit spitzem Kinn und bläulicher Haut.
    Der Vater hatte sie vor zehn Jahren zur Frau genommen, nur vier Wochen nach dem Tod von Jane, Margarets leiblicher Mutter. Die hastige Heirat hatte damals Befremden ausgelöst. Selbst der König hatte fragen lassen, was das solle. Thomas hatte seinem frisch gekrönten Herrscher einen Brief geschrieben: Ein gutes Frauenherz sei wie ein Steinpilz, den man zeitig vor der Fäule schneiden und verwerten müsse. Ganz London lachte über diese Zeilen, nur Lady Alice nicht.
    Sie hatte wirklich ein gutes Herz, und sie war nicht bloß die neue Mutter von Thomas’ vielen Kindern, sondern für ihn selber auch beinah der bessere Pater familias, das Oberhaupt, der Hausvater, die wichtige Rolle, für die er selber viel zu wenig Zeit fand. Alice war durchaus ein bisschen männlich mit ihrer etwas lauten, tiefen Stimme, mit ihrer festen Art und mit den stampfenden Schritten, die man überall früh genug hörte, um ihr, wenn nötig, aus dem Weg zu gehen.
    »Liebe Mutter«, sagte Margaret, »hatten Sie in Ihrer Jugend denn nie Geheimnisse?… Süße Geheimnisse?«
    Lady Alice wechselte die Farbe. »Herrje, wenn dein Vater hörte, was wir miteinander reden.«
    »Dann haben wir ein neues süßes Geheimnis«, sagte Margaret flink und horchte an der Tür zum Flur. »Wir sind allein und niemand hört uns.«
    »Was du dich traust…«, sagte die Dame und schnalzte mit der Zunge. »Geheimnisse und Eifersucht sind ja das Salz der Liebe. Ei, wenn das mein Vater selig hätte hören können… Er hätte mich wohl totgeschlagen.«
    »Das war früher mal«, sagte Margaret, nahm ein Messer und ging ihrer Stiefmutter zur Hand. »Heute sind wir klüger und wissen einfach mehr.«
    »Du vielleicht, weil euer Vater eine Schule für euch macht. Da bist du in London wohl das einzige Mädchen, das gebildet ist, von deinen Geschwistern und den Mündeln einmal abgesehen. Glaub ja nicht, dass über unsere Hausschule immer und überall gut geredet würde, beileibe nicht.«
    »Mein Vater fühlt sich ein«, versetzte Margaret. »Er würde mich zum Beispiel nie zwingen, jemanden zu heiraten, den ich nicht liebe, wie das andere Väter tun.«
    »Aber er würde auch nie erlauben, dass du diesen Andrew heiratest, selbst wenn der arme Kerl das Geld dafür besäße.«
    Margaret brummte zornig. »Ach bitte, liebe Mutter, lenken Sie nicht immer ab. Ich will wissen, ob Sie selbst mal ein Geheimnis hatten.«
    »Ich will, ich will!«, rief Lady Alice singend und schob sich ein kleines Rübenstück in den Mund. »Und am liebsten mit viel Leidenschaft, nicht wahr?… Oh ja, doch, er hieß… Waldemar!«
    Margaret musste kichern und schlug sich die Hand vor den Mund.
    Die Stiefmutter blickte zur Decke. »Er war ein Held, ein Ritter, wie du noch keinen gesehen hast. Stell dir vor, ein Deutscher.«
    »Blond und groß.«
    »Nein, er war klein, kleiner als ich. Und es sah albern aus, wenn wir so nebeneinander standen. Aber seine Stimme! Ich habe mich in seine Stimme und in seine Hände verliebt. Seine Stimme ging mir durchs Ohr direkt in das Herz… Und dann die Hände… Aber ich war ihm nicht schön genug«, setzte sie traurig hinzu. »Ich bin nun mal hässlich.«
    »Nein.«
    »Oh doch.«
    »Aber inwendig haben Sie das beste Herz der Welt«, sagte Margaret und lachte frei heraus.
    »Ich danke dir sehr, mein Kind.« Die Dame wischte sich die Tränen aus dem lebenden Auge. »Waldemar war die Tragödie meines Lebens. Jeder Mensch erlebt eine solche Tragödie, glaube mir.«
    »Ich nicht.«
    »Ach!«
    »Ich werde glücklich…« Margaret ließ ihr Messer fallen, rannte um den Tisch und warf die Arme um die Mutter. »Sie müssen nicht so traurig sein. Wir alle lieben Sie!«
    Lady Alice ließ es sich nach Herzenslust gefallen. Sie drückte Margaret ebenfalls, drehte sie hin und her.
    »Wenn uns dein Vater sehen könnte, würde er unsere

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