Die Seelenquelle
den Eindruck, dass sie noch eine Erklärung hinzufügen musste. »Ich bin wirklich nur auf der Durchreise. Ich werde nicht hierbleiben.«
»Nicht?«, fragte die Nonne. »Das ist schade. Damaskus hat viele wundervolle Plätze, die man besuchen kann – einschließlich des Klosters der heiligen Thekla. Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen.«
Cass brachte eine angenehme halbe Stunde damit zu, die Kirche mit ihren grellbunten Ikonen und, in den Gebäuden dahinter, die ordentliche kleine Schule sowie den Schlafsaal zu begutachten.
»Wir leiten ein Waisenhaus für Mädchen«, erklärte Schwester Theoduline. »So viele Kinder haben ihre Eltern durch den Aufstand und Krankheiten verloren. Wir haben siebenundzwanzig Mädchen hier bei uns und dreiunddreißig weitere in Ma’aloula, unserem Mutterkloster.«
»Aha«, sagte Cass. »Sie scheinen hier glücklich zu sein. Ich bin sicher, dass Sie eine sehr gute Arbeit leisten.«
»Gott sei Dank ist dem so«, erwiderte die Nonne. »Doch die Fürsorge für Waisen ist ein zweitrangiger Dienst, könnte man sagen. Uns wurde ursprünglich die Aufgabe übertragen, den Pilgern – die sich auf ihrem Weg zu und von den heiligen Stätten hier in Damaskus und darüber hinaus befinden – zu helfen und ihnen Gastfreundschaft zu gewähren.« Sie seufzte. »Wir haben so wenige Pilger heutzutage – die Zeiten sind so, wie sie eben sind. Wenn Sie sonst nirgendwo hingehen können, sind Sie höchst willkommen, wenn Sie während Ihres Aufenthalts in Damaskus hier bei uns wohnen.« Sie lächelte hoffnungsvoll. »Es würde unsere Mission unterstützen, wenn wir Sie einfach nur hier hätten.«
Cass dankte ihr, erklärte jedoch: »Ich nehme nicht an, dass ich sehr lange in Syrien sein werde.«
»O, ich dachte, Sie sagten, dass Sie die Zetetische Gesellschaft besucht hätten, n’est-ce pas? «
»Da habe ich, ja, aber …« Sie hielt inne, dann schlug sie einen s anderen Kurs ein. »Entschuldigung, warum fragen Sie das?«
»Von Zeit zu Zeit haben wir die Gastfreundschaft auf die Mitglieder der Gesellschaft ausgedehnt. Sie sind sehr faszinierende Menschen. Wenn Sie zu ihnen gehören, müssen Sie, wie ich glaube, ebenfalls faszinierend sein.«
»Darüber weiß ich nichts«, entgegnete Cass schüchtern. »Ich gehöre nicht wirklich zu ihnen; das heißt, ich bin kein Mitglied der Gesellschaft.«
»O, vergeben Sie mir bitte meine vorschnelle Vermutung«, entschuldigte sich Theoduline. Ihr Lächeln kehrte augenblicklich zurück. »Aber Sie sind dennoch höchst willkommen, wenn Sie bei uns bleiben möchten – wie lange Ihr Besuch auch dauern wird.«
»Danke schön«, sagte Cass. Sie überlegte, dass sie nirgendwo anders hingehen konnte und ohnedies kein Geld hatte, und überraschte sich selbst durch ihre folgenden Worte. »Ich glaube, das würde ich gerne.«
Das erfreute die junge Nonne, die anbot, ihr sofort ein Zimmer zu zeigen. Es war klein, sauber und ähnelte einer Zelle; und darin gab es ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen hellen persischen Läufer, der auf dem Boden neben dem Bett lag. An der einen Wand hing ein schlichtes Holzkreuz, an der anderen das Bild von einer jungen Frau in einem fließenden Gewand und mit einem Heiligenschein um ihren Kopf. Cass warf einen Blick auf das Gemälde und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Die junge Frau auf dem Bild ging zwischen zwei hoch aufragenden Felswänden – unverkennbar ein Canyon.
Es war eine solch lebendige Darstellung dessen, was Cass selbst erlebt hatte, dass sie eine unmittelbare Verbindung zu dieser Frau empfand. Sie trat näher heran, um es sich genauer anzusehen.
Schwester Theoduline, die sie über Seife und saubere Handtücher informiert hatte, bemerkte ihr Interesse und stellte sich neben sie. »Das ist die heilige Thekla«, erklärte die Nonne. »Kennen Sie die Geschichte?«
Cass bekannte, dass sie noch nie etwas darüber gehört hatte.
»Es ist nicht uninteressant«, meinte die Schwester und begann, die Legende über die syrische Heilige zu erzählen. Thekla wurde als junge Frau zum Christentum bekehrt und vom heiligen Paulus getauft. Eines Tages wurde sie verfolgt – weswegen, war nicht völlig klar: Vielleicht hatte sie einen skrupellosen Verehrer, der ihr wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit nachstellte; oder sie wurde möglicherweise bedrängt, weil sie sich weigerte, ihren Glauben aufzugeben und dem Kaiser zu huldigen. Wie dem auch sei – nachdem sie in die wilde Bergwelt geflohen war, musste sie
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