Die Seelenquelle
abscheulichen, mächtigen Gegnern, gehemmt durch die gewaltige Größe der vor uns stehenden Aufgabe. Doch Sie wissen: Gott hat stets durch die Kleinen, die Unbedeutenden und Machtlosen gewirkt. Das scheint in das wirkliche Gewebe des Universums hineingenäht zu sein.« Die ältere Frau hielt inne, bevor sie betonte: »Wenn Sie einen Augenblick darüber nachdenken, werden Sie erkennen, dass es stets nur auf diese eine Weise abgelaufen ist. Immer und immer wieder sehen wir, dass das größere Vorhaben von Gott voranschreiten kann, wenn jemand ihm bereitwillig das gibt, was auch immer er an Mitteln hat – egal, ob es sich dabei um nichts weiter als fünf glatte Steine handelt, die in einem trockenen Flussbett aufgesammelt wurden, oder um fünf kleine Brotlaibe und zwei getrocknete Sprotten. Klein und unbedeutend? Zweifellos. Doch am Tag der Entscheidung hing alles von diesen fünf glatten Steinen ab – mit ihnen tötete David Goliath und rettete ein ganzes Volk.«
»Fünf Laibe Brot wurden zu einem Festessen für fünftausend hungrige Menschen«, sagte Cass nachdenklich, die sich an die Geschichte aus der Bibel erinnerte.
Rosemary Peelstick nickte in Richtung des vorderen Altarraums, wo ein Holzkreuz stand, und kam zum Schluss ihres kleinen Vortrags. »Und ein armer Wanderprediger, der durchs Land zog, der ohne Heim, Geld und Freunde war und der – abgesehen von einer Handvoll nichtsnutziger Fischer und einigen wenigen Frauen – von allen verachtet wurde, gab sich selbst so vollständig Gott hin, dass die vereinte Gewalt der beiden mächtigsten Kräfte jener Welt – das Römische Imperium und die religiösen Autoritäten – es nicht vermochten, ihn aufzuhalten.«
»Sie haben ihn zerschmettert und getötet«, murmelte Cass, die auf das nüchterne Kreuz im Altarraum starrte. »Und schauen Sie, was passiert ist.«
»Ja«, stimmte Rosemary Peelstick ihr leise zu. »Sie haben ihn getötet … und schauen Sie, was passiert ist.«
ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
C ass starrte auf das einfache Holzkreuz und dachte über die Tiefen dieses heiligen Mysteriums nach. Fünf glatte Steine, die in einem trockenen Flussbett aufgesammelt worden waren, veränderten den Verlauf der Geschichte; ein Volk wurde gerettet. Und dieser andere Junge, dem ein Essen aus fünf kleinen Brotlaiben und zwei getrockneten Fischen mitgegeben worden war und der sich davongemacht hatte, um den Wander-Rabbi predigen zu hören. Bevor der Tag halb vorbei war, würde er die Grundlage für ein Wunder liefern. Er war gebeten worden, das Wenige zu geben, welches er besaß – und in den Händen des Herrn wurde es zu einem Fest für Tausende. Hatte jener Bursche vermutet, dies würde geschehen? Nein, wie hätte dies sein können? Er wusste lediglich, dass man ihn gebeten hatte, sich zu entscheiden, welcher Seite er dienen wolle – genau so, wie Cass nun gebeten wurde.
»Was sagen Sie, Cassandra?«, fragte Brendan schließlich. »Wir haben Ihnen von unserer Arbeit erzählt und wie Sie helfen können. Es ist an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Werden Sie sich uns anschließen?«
Trotz all der absonderlichen Behauptungen und freien Vermutungen, trotz all der verschnörkelten und exzentrischen Aussagen, die sie im Verlaufe des Tages gehört hatte, fühlte sich Cass zu der großen Suche hingezogen. Irgendwo im Kern ihres Wesens wusste sie, dass das, was man ihr erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Dennoch zögerte sie. Sich diesen Leuten anzuschließen, bedeutete, alles hinter sich zu lassen, was ihr jemals vertraut geworden war – ihr Leben, ihre Arbeit, ihren Platz in der Welt … ganz zu schweigen von ihrem Vater. Der Gedanke an ihren Vater, der auf sie in Arizona wartete und sicherlich ganz verzweifelt wegen ihres Verschwindens war, brachte sie in die Wirklichkeit zurück.
»Ich kann nicht«, antwortete sie schließlich und seufzte. »Ich kann nichts unterschreiben, das ich nicht vollständig begreife. Darüber hinaus habe ich andernorts Verpflichtungen. Mein Vater zum Beispiel – er muss außer sich sein vor Sorge und sich fragen, was mir passiert ist.«
»Wenn ich Ihnen sagen würde«, entgegnete Brendan, »dass Sie zu dem Ort zurückkehren können, den Sie verlassen haben – und zwar etwa innerhalb eines Tages nach dem Zeitpunkt Ihres Verschwindens –, würde das einen Unterschied machen?« Als er sah, dass Cass zögerte, drängte er weiter. »Das entspricht der Wahrheit. Es ist bekannt, dass Reisende jahrelang von ihrer Heimat
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