Die Seelenquelle
Bison mit einem Jungen; zwei springende Antilopen; ein brüllender Höhlenlöwe mit weit aufgerissenem Rachen, der seine Fänge zeigte; ein Bär, der auf seinen Hinterbeinen stand; ein Rind; ein weiterer Bär; eine dickbäuchige Kuh mit einem mageren Kalb, das nach oben schnüffelte, um zu saugen; sogar der hochgewölbte Kopf und die Schultern eines Wollhaarmammuts mit seinem roten, zotteligen Fell. All die Bilder waren mit sehr großem Geschick gemalt worden, doch irgendwie in einem naiven Stil, als ob sie von Schulkindern mit außergewöhnlichem künstlerischem Talent stammten. Die Art, wie die Künstler das Verhalten einzelner Geschöpfe mit nur ein paar Linien eingefangen hatten – hier ein Strich für einen Mund, dort eine Farbtönung für gewölbte Muskelstränge –, war bemerkenswert und offenbarte eine lange Vertrautheit mit den Lebensweisen der dargestellten Tiere. Gleichzeitig gab es eindeutig ein fantastisches Element in der Darstellung – als ob der Künstler mit seinen Objekten spielte oder sich an einem heiteren Tanz beteiligte.
Weiter hinten in der Galerie sah Kit, dass es abgesehen von den dargestellten Tieren auch Bereiche gab, die aus gezeichneten Symbolen bestanden: Spiralen und wellenförmige Linien; Punkte und Kreise von unterschiedlicher Größe; Gebilde, die wie Eier aussahen, und viele Handabdrücke. Letztere waren auf eine Art hergestellt worden, wie man es von einer Kindergärtnerin kannte, die mit einem Buntstift die Konturen ihrer eigenen Finger wiedergab. Auf der Höhlenwand jedoch waren die Farbpigmente irgendwie über die Hand gesprüht worden, anstatt um sie und die Finger herum zu zeichnen. Auf diese Weise hatte man einen »Schattenabdruck« auf dem umgebenden Fels hinterlassen – eine Farblücke, wo die Hand des Künstlers gewesen war. Waren diese Abdrücke so etwas wie die Unterschriften des Künstlers? Oder stellten sie einfach eine Möglichkeit dar, um eine Anwesenheit auszudrücken – so wie die »Bill wa’ hier«-Graffiti, die man in Londoner Unterführungen gekritzelt sah?
Und dann erblickte Kit etwas, das sein Herz ein wenig rascher schlagen ließ. Auf der gegenüberliegenden Wand waren kleinere Formen aufgesprüht worden. Kit schritt dorthin, um sich die Muster aus Wirbeln und Spiralen, aus Schnörkeln und Punkten genauer anzusehen: Es waren die merkwürdigen Buchstaben eines durcheinandergebrachten Alphabets. Trotz der primitiven Werkzeuge, die man beim Malen dieser Buchstaben benutzt hatte, war jeder von ihnen einzigartig und sehr präzise gezeichnet. Als Kit sich nah heran beugte und im düsteren, flackernden Licht angestrengt auf sie schaute, erkannte er, dass er diese wunderlichen Bildsymbole schon einmal gesehen hatte – auf der Meisterkarte.
Kit starrte auf die undurchsichtigen Zeichen, während sich vor Verwunderung in seinem Kopf alles drehte. Wie konnte das nur sein? Wie war das möglich? Er atmete tief ein und zwang sich, seine rasenden Gedanken im Zaum zu halten. Okay, überlege genau! Was bedeutet das? Als Erstes fiel ihm ein, dass entweder Arthur FlindersPetrie hier gewesen war oder irgendjemand, der Zugriff auf diese Karte hatte; denn bei genauerer Betrachtung bemerkte Kit, dass die Technik des Künstlers sich sehr von der unterschied, die sich in den anderen Bildern zeigte. Jedes Bildsymbol war präzise und sauber gezeichnet – ohne falsche Anfänge oder verschmierte Linien. Offenkundig wusste die Person, die diese Symbole auf die Wand gemalt hatte, ganz genau, was sie tat.
Während Kit in der Dunkelheit der Höhle stand, die im Schein der flackernden Lichter zu beben schien, vernahm er erneut die Worte von Sir Henry Fayth: Es gibt keinen Zufall unter dem Himmel.
»So etwas wie Zufall gibt es nicht«, flüsterte Kit und streifte mit einer zitternden Fingerspitze über das Felsgestein. Und es stimmte.
Plötzlich bewegte sich das Licht. Kit blickte sich um und sah, dass die Clanmitglieder weiterzogen. »Wartet!«, rief er unwillkürlich; seine Stimme hallte hohl entlang der Felswände. Der Letzte der Gruppe schaute zurück, hielt jedoch nicht an, und Kit war binnen Kurzem von der Finsternis eingehüllt. Mit einem frustrierten Stöhnen verließ Kit die Symbole der Meisterkarte und eilte dem Licht hinterher. Er war entschlossen, so bald wie möglich hierher zurückzukehren, um die Symbole etwas eingehender zu studieren und sie sich einzuprägen.
Durch Biegungen und verwinkelte Abschnitte führte sie Dardok tiefer und immer tiefer in die Höhle
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