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Die Seelenquelle

Die Seelenquelle

Titel: Die Seelenquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
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fremdartigen Ort – dies waren augenscheinlich mehr oder weniger allgemeine Charakteristika des Phänomens, die in vielen Kulturen und in zahlreichen Zeitepochen belegt waren. Einige Autoren schrieben der Erfahrung mystische Bedeutung zu, andere wiederum drückten ihre Beurteilung in recht alltäglichen Begriffen aus.
    Und obwohl viele absonderliche Behauptungen und Erklärungen angeboten wurden und es nur sehr wenig Übereinstimmung zwischen Leuten mit erstaunlich unterschiedlichen Lebensorientierungen gab – von denen einige eine extrem lose Bodenhaftung offenbarten –, war Cass überdies in der Lage, ein paar allgemeine Themen herauszufinden: ein Glaube, dass das Reisen zu anderen Dimensionen oder parallelen Wirklichkeiten von vielen verschiedenen Kulturen in zahlreichen unterschiedlichen Zeitaltern geteilt wurde – und dass so etwas nicht nur möglich war, sondern eine Praxis darstellte, die gelehrt, gelernt und gemeistert werden konnte. Die Autorin eines faszinierenden Artikels – eine Frau mit hüftlangen weißen Haaren, die unter dem Namen Sternadler bekannt war – wollte beobachtet haben, dass es nicht nur bestimmte Orte in der Landschaft gab, die für den Schamanenflug bedeutsam waren, sondern dass diese festgelegten Stellen auch zeitsensitiv waren. Dies bedeutete: Der potenzielle Flieger würde am wahrscheinlichsten Erfolg haben, wenn er – oder auch sie – bei Sonnenaufgang oder -untergang begann. Die Morgen- und Abenddämmerung waren die besten Zeitabschnitte für das Fliegen, erklärte die Autorin.
    Als nüchtern denkende Wissenschaftlerin hätte Cass all das als lauter Quatsch und Hokuspokus abgetan. Wenn da nicht ihre selbst erlebten Erfahrungen am Tag zuvor gewesen wären, hätte sie Astralreisen ins Reich der Irren verwiesen – zusammen mit der Regenbogen-Anbetung, den Kornkreisen und mandeläugigen Aliens. Doch irgendetwas war passiert, und was auch immer es war, sie konnte es nicht einfach unbeachtet lassen. Wie eine gute, unvoreingenommene Forscherin hatte sie sich darauf vorbereitet, ihre Entdeckung – wie verstörend sie auch sein mochte – zu überprüfen und zu dokumentieren. Darüber hinaus wollte sie etwas Handfestes haben – zumindest ein paar Fotografien –, um es ihrem Vater zeigen zu können.
    Sie ging mühelos durch die Wüste und genoss den Spaziergang zwischen Kakteen und Kreosotbüschen. Dabei empfand sie die fast schwindelerregende Gefühlswelt eines kleinen Mädchens am Heiligen Abend – dieses nervöse Flattern im Magen und eine fiebrige Vorfreude. Als sie das Trockental erreichte, legte sie eine kleine Pause ein, um ein paar Schnappschüsse vom Eingang des Geheimen Canyons zu machen, der immer noch tief im Schatten lag. Sie konnte die von der Nacht ausgekühlte Luft spüren, die aus der Mündung der Schlucht herausdrang, über sie hinwegwehte und sich verteilte. Die klaffende dunkle Öffnung wirkte wie der Eingang zu einer Höhle und irgendwie Furcht einflößend. Cass zögerte und schoss noch ein paar Fotos mehr. Als schließlich die aufsteigende Sonne die zerklüftete Hügellinie im Osten erhellte und sich Licht über das Tal ergoss, holte sie tief Luft und flüsterte ein einfaches Gebet: »Gott, bitte achte darauf, dass ich mir nicht das Genick breche.« Sie führte ihren Arm durch den Halteriemen ihres Rucksacks, machte einen Schritt in den Canyon hinein und fügte hinzu: »Und bitte, o bitte, lass nicht zu, dass ich mich verirre.«
    Die Wände der Schlucht schienen sich um sie herum zu schließen. Sie ging langsam und setzte bei jedem Schritt den Fuß mit übertriebener Vorsicht auf, als ob sie auf diese Weise die Entfernung messen wollte. Ihre Sinne waren hellwach – offen für alle Eindrücke, welche auch immer sie empfinden würde. Abgesehen vom Geräusch ihrer eigenen Fußschritte, das von den hohen Sandsteinwänden reflektiert wurde, gab es nichts. Sie hatte bereits den geraden Pfad erreicht und befand sich ein gutes Stück in der Schlucht, als ihr einfiel, dass sie Freitag hinterhergejagt war und versucht hatte, ihn einzuholen, als sie das erste Mal hier gewesen war. Also marschierte sie schneller. Eine heftige, kalte Brise wehte von den steinigen Höhen der hügeligen Wände herab. Sie beschleunigte ihr Schritttempo noch mehr.
    Von irgendwo hoch oben auf dem Canyonrand über ihr hörte Cass Töne wie das Rufen eines Falken – ein scharfes, heulendes Pfeifen, dann verspürte sie einen Regentropfen auf ihrem Handrücken. Sie blickte hoch und bekam einen

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