Die Seelenquelle
einen Namen: Baby. Und das letzte Mal, als er Baby gesehen hatte, war diese Kette in den Händen eines Burley-Mannes gewesen, der Mal hieß.
Fassungslos eilte Kit zum Eingang der Höhle und schaute hinaus. Die Schlucht war fort, der Schnee verschwunden – und mit ihm auch der Winter. Stattdessen starrte er auf einen grünen, mit Buschwerk bewachsenen Abhang, der sich steil nach unten neigte. Weit unten am Fuße des Berges sah er, wie der Höhlenlöwe auf einen Fluss zurannte. Der Strom glitzerte silbern und floss an dieser Stelle in einem ausladenden Bogen dahin. Und direkt hinter dem Fluss erblickte Kit den dunklen Asphalt einer zweispurigen Landstraße.
DREIZEHNTES KAPITEL
V on allen Zeitabschnitten des Tages liebte Cassandra in Sedona am meisten die Phase des Sonnenaufgangs. Die Luft war frisch und kühl von der vorangegangenen Nacht und der Himmel blassrosa; die aufgehende Sonne konnte jedoch nicht gesehen werden, weil sie hinter den hochragenden Felstürmen versteckt war, deren obere Ränder den Horizont bildeten, und das in allen Richtungen. Cassandra steckte den Schlüssel ins Zündschloss eines der weißen Kleintransporter, startete den Motor und fuhr langsam vom Parkplatz des King’s Arms Motel . Es gab nur wenig Verkehr auf der Straße, und sie kam auf der vertrauten Fahrt zur Ausgrabungsstätte gut voran. Sie bog schließlich auf den Sammelplatz der Ausgräber und parkte hinter dem Hügel aus Schuttsäcken, sodass der Transporter von der Landstraße aus weniger gut sichtbar sein würde.
Sie nahm ihren Hut, ihre Sonnenbrille und die Kamera, steckte die Schlüssel unter die Gummifußmatte des Autos und schloss die Fenster. Sie ließ den Van in dem dürftigen Schatten eines kleinen Sonnendachs aus Segeltuch zurück, das an einen Schuppen befestigt war, in dem Fundstücke sortiert wurden. Sie warf sich ihren Tagesrucksack über die Schulter und schlängelte sich zwischen Ausgrabungslöchern und Gräben auf die Böschung zu, die das tiefe Trockental abschirmte, das als Geheimer Canyon bekannt war. Tief atmete sie die morgendliche Luft ein, die schwer vom Duft des Wüstenbeifußes war, und marschierte in einem lockeren Schrittrhythmus weiter. Cass genoss das Knirschen von Geröll unter den dicken Sohlen ihrer Stiefel. In einer zweckmäßigen Kleidung für Outdoor-Aktivitäten in dieser Region war sie hergekommen. Sie trug ihre guten, ausgetretenen Wanderstiefel und dicke Socken, ihr langärmeliges Chambray-Hemd, ihre leichte Cargohose und das überdimensionale Kopftuch aus Baumwolle, das sie als Sonnenschutz benutzte. Ihr Tagesrucksack enthielt zwei Liter Wasser, einen Margarine-Becher, der bis oben hin mit Rosinen, Erdnüssen, M&Ms sowie getrockneten Moosbeeren gefüllt war, eine Tube Sonnencreme mit dem Lichtschutzfaktor 100+, ein Klappmesser, ihren Notfall-Sanitätskasten mit Mitteln gegen Schlangenbisse und das leichtgewichtige Reisefernglas – einfach alles, was sie für einen Vorstoß in die Wüste brauchte. Wenn das, was heute passieren würde, irgendwie dem ähnelte, was sich am Abend zuvor ereignet hatte, dann wäre sie bestens vorbereitet. Auf jeden Fall wollte sie ein paar Fotos schießen und einige Notizen schreiben, um damit anzufangen, das Phänomen zu dokumentieren. Wenn ihr Vater später am Tage ankommen würde, könnten sie sich zusammensetzen und eine gründlichere Untersuchung planen. Zuerst jedoch hatte sie vor, ihre Theorie zu überprüfen, dass das Phänomen, welches Freitag die Coyote-Brücke genannt hatte, tatsächlich eine Raum-Zeit-Anomalie darstellte, die mit der materiellen Landschaft der Erde verbunden oder in ihr eingebettet war.
Nach dem Gespräch mit ihrem Vater war Cass zu Bett gegangen, aber viel zu aufgeregt gewesen, um einschlafen zu können. Und so verbrachte sie die Nacht online und durchsuchte das Web nach Informationen über Phänomene wie schamanistische Flüge sowie Seelen- und Astralreisen. Das meiste, was sie auf ihrem Laptop las, während sie zusammengekauert in ihrem Bett saß, war
unzusammenhängendes Geschwafel – eine Mischung aus New-Age-Schund und Bizarro -Fantasien. Doch sie fand auch genug vernünftiges Material, um sich selbst davon zu überzeugen, dass das, was sie am Tag zuvor erlebt hatte, kein Traum, keine Vision und keine Geistesstörung war, wie etwa Halluzinationen oder irgendeine Art von Hysterie. Der heftige Sturm, der plötzlich auftauchte und ebenso rasch verschwand, das merkwürdige Schwindelgefühl, die abrupte Ankunft an einem
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