Die Seelenquelle
Westen in Gelb, Grün oder Blau. Jeder Kopf war bedeckt: Die Frauen trugen Kopftücher oder Schleier aus netzförmiger Spitze, die Männer ziegelfarbige oder blutrote Hüte.
Cass warf einen Blick auf die jeweils von einem Fez bedeckten Köpfe und kam zu dem Schluss, dass sie in der Türkei angekommen war – Istanbul vielleicht? Jedenfalls war es eine Stadt, die sie nie zuvor besucht hatte, und sie verspürte auch nicht den Wunsch, gerade jetzt dort zu sein. Rasch blickte sie nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete. Dann tauchte sie in die Gasse ein, aus der sie gerade hervorgekommen war, und schritt den Weg zurück, den sie zuvor gegangen war. Zu beiden Seiten öffneten sich Gänge, doch sie marschierte geradeaus weiter, bis sie eine weiße Mauer erreichte. Der alte Pfad hatte einst durch diese Wand geführt: Sie konnte die Umrisse eines steinernen Torbogens erkennen, doch die Öffnung war irgendwann in der Vergangenheit zugemauert worden.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in die entgegengesetzte Richtung zurück. Das tat sie mit den gleichen schnellen, entschlossenen Schritten, die sie hierhergebracht hatten. Dieses Mal jedoch hatte es nicht den gewünschten Erfolg. Die Luft blieb still, in der Gasse wurde es nicht dunstig, und es gab weder eine plötzliche Windböe noch Regen noch Nebel – und auch nicht das kurzzeitige Taumeln in eine andere Welt hinein. Cass hielt inne, atmete tief ein und wiederholte den Versuch … mit keinem besseren Ergebnis.
Auf ihren Schulterblättern bildete sich kalter Schweiß und perlte herab. »Nein«, wisperte sie. »Angst wird dich nirgendwohin bringen. Dreh dich um und probier es noch einmal.«
Nach einem weiteren Versuch gelangte Cass zu dem Ergebnis, dass sie festsaß – zumindest bis zum Sonnenuntergang oder, wenn es fehlschlagen sollte, bis zum nächsten frühen Morgen. In der Zwischenzeit würde sie einen Ort finden müssen, wo sie sich bis zum Einbruch der Nacht versteckt halten konnte. Das würde sie von den Blicken anderer Menschen und von Schwierigkeiten fernhalten. Sie schaute sich um und entschied, sich in einem der kleinen Durchgänge hinzukauern, die von der Gasse abzweigten. Dort war es schattig und kühl; und obwohl es Türen gab, die auf den Gang hinausführten, befand sich niemand in der Nähe. Sie streifte ihren Rucksack ab, setzte sich auf den Boden und freundete sich mit dem Warten an.
Nachdem etwa eine Stunde vergangen war, in der sie sich immer mehr gelangweilt hatte, überdachte sie die Strategie. Auf einmal kam ein Hunderudel durch die Gasse geschlendert. Die Tiere sahen sie und begannen zu bellen. Cass mochte Hunde nicht allzu gern, und noch weniger mochte sie es, angebellt zu werden. Sie versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, und vollführte wegscheuchende Bewegungen mit den Händen, um sie zu vertreiben. Während sie dies tat, öffnete sich eine der Türen in der Gasse, und ein Mann steckte den Kopf heraus, um zu schauen, was das Rudel in Aufregung versetzt hatte. Er sah sie und schritt auf sie zu; dabei rief er etwas in einer Sprache, die Cass nicht zu identifizieren vermochte. Um eine Erklärung oder Konfrontation zu vermeiden, nahm Cass ihren Rucksack auf die Schulter, winkte dem Mann vergnügt zu und eilte fort, begleitet von einer Hundeeskorte.
Als sie abermals auf der Straße war, gelangte sie zu dem Entschluss, dass sie ebenso gut das Beste aus ihrer Situation machen und zumindest den Ort erforschen könnte, während sie hier war. Sie hatte sich erst ein paar Schritte vom Ausgang der Gasse entfernt, als sie einen Ruf hörte. Gerade noch rechtzeitig wirbelte sie herum, um einem Mann auf einem Motorroller auszuweichen, der direkt auf sie zuhielt. Auf dem Lenker balancierte er ein Tablett mit Granatäpfeln. Cass drängelte sich aus dem Weg, als der Roller vorbeisauste. Der Mann schrie immer noch und schlingerte auf seinem Gefährt wilder umher. Nur knapp verfehlte er einen Eselskarren, der mit Lattenkisten voller lebender Hühner beladen war; die Verschläge waren zu einem hohen, instabilen Turm aufgestapelt worden. Die Hunde folgten dem Karren und kläfften den Esel an. Cass nahm ihren Marsch die Straße hinunter wieder auf und hielt nach irgendwelchen Hinweisen Ausschau, denen sie entnehmen könnte, wo um alles in der Welt sie war.
Die Schilder, die sie an Läden und in Fenstern sah oder die über der Straße an Drähten hingen, waren alle in irgendeiner Art von Arabisch – was nicht
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