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Die Seelenquelle

Die Seelenquelle

Titel: Die Seelenquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
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weiteren Regentropfen ab, der ihr auf die Stirn klatschte. Eine niedrige Nebelwolke hing über dem Spalt zwischen den eng stehenden Felswänden. Sie ging weiter und nahm den plötzlichen Wetterwechsel zur Kenntnis, als eine Windböe ihr um die Beine schlug und über den Pfad vor ihr losen Sand und trockene Yucca-Blätter blies. Der Nebel senkte sich und umhüllte sie; ihr Gesicht wurde ganz feucht. Im selben Augenblick durchfuhr sie ein Gefühl der Übelkeit, und sie geriet ins Straucheln – als ob der Boden unter ihren Füßen einen halben Schritt herabgefallen wäre. Sie sah ein Licht vor sich, wo sich die Sonne durch den alles umhüllenden Nebel brannte, und bewegte sich darauf zu. Dann kam sie heraus und fand sich selbst auf einer gewaltigen Ebene wieder, die sich in alle Richtungen ausdehnte – auf einen Horizont zu, der weit entfernt von schwarzen Hügeln gebildet wurde.
    Sie war in der Geisterwelt angekommen.
    Urplötzlich traf sie die Reiseübelkeit, die Cass wie ein Schlag durchfuhr, noch als sie dastand und auf die Leere schaute, die sich um sie herum öffnete. Sie krümmte sich und würgte in den Staub zu ihren Füßen. Mit den Händen auf den Knien stand sie einen Moment da und atmete nur durch die Nase, bis das Schwindelgefühl vorübergegangen war. Anschließend tupfte sie sich die Lippen ab und spülte mit einem Schluck aus ihrer Wasserflasche den Mund aus. Sie war dankbar, dass sie dieses Mal keine Kopfschmerzen hatte. Nachdem sie noch etwas mehr Wasser getrunken hatte, hob sie ihre Kamera hoch und begann, die trostlose, einfarbige Landschaft zu fotografieren. Cass vollführte einen weiten Panorama-Schwenk, um die offene, leere, knochentrockene, wie mit dem Bügeleisen geplättete Fläche vulkanischen Ursprungs aufzunehmen, die sich um sie herum ausdehnte. Die Sonne stand niedrig am westlichen Himmel – sie berührte fast die Spitzen der weit entfernten Hügel – und beleuchtete die Linien, welche die Ebene aus Schlacke bedeckten und sich durch die vollkommen konturlose Einöde erstreckten: Es gab keine Kakteen, keine Felsblöcke, keine Steine, die größer als die anderen waren – absolut nichts in allen Richtungen, so weit das Auge reichte … mit Ausnahme der mysteriösen Linien. Einige der Linien waren pfeilgerade, andere drehten sich zu gewaltigen Spiralen, die sich über große Flächen der leeren Landschaft ausbreiteten.
    Cass senkte ihre Kamera und ging in die Hocke, um ein paar Bilder vom Pfad aufzunehmen, auf dem sie stand. Dann legte sie die Hand auf den Boden, um die grobkörnige Beschaffenheit des Bimssteins zu fühlen, und entdeckte, dass die untere Schicht leichter als die obere war.
    »Oxidierung«, sagte sie leise zu sich selbst. »So also entstehen sie.«
    Es war die Einfachheit selbst: Indem man die Oberflächenschicht zu beiden Seiten fortbewegte, um das leichtere Material darunter freizulegen, wurde ein Streifen hellfarbigen Gesteins erschaffen. Sie erinnerte sich an Bilder von Kreidezeichnungen, die an der Universität in Vorlesungen über prähistorische Anthropologie gezeigt wurden: Um eine Zeichnung auf einem Hang zu kreieren, entfernten Naturvölker einfach das Gras, um die weiße Kreide aufzudecken, die sich direkt unter der Oberfläche befand: eine Technik, die nur wenige Werkzeuge benötigte, aber eine Menge Arbeitskraft. Das Prinzip hier war das Gleiche.
    Cass trat von der Linie fort und nahm aus einem anderen Blickwinkel ein Foto vom Pfad auf. Das Licht wurde etwas dunkler; die Sonne begann, hinter die Hügel zu sinken. Cass überlegte: Nachdem sie das getan hatte, was sie wollte, entschied sie, dass sie besser zurückgehen sollte, solange die Coyote-Brücke zwischen den Welten noch geöffnet war. Sie trat abermals auf den Pfad und begann, mit schnellen, zielgerichteten Schritten den Weg zurückzugehen, den sie gekommen war.
    Fast augenblicklich kam der Wind auf. Wirbelnde Staubtromben heulten um sie herum und ließen Wolken aus feinem vulkanischem Abrieb aufsteigen. Zum Schutz vor den umhertreibenden Körnern schloss Cass ihre Augen fest zu, und einen Augenblick später fühlte sie einen Feuchtigkeitsfilm auf ihrem Gesicht. Sie ging einige wenige Schritte weiter, und der Wind erstarb mit einem letzten, langsam ausklingenden Kreischen. Sie war zurück im Canyon und in der schattigen Kühle des frühen Morgen; zu beiden Seiten erhoben sich senkrecht die hohen Steinwände.
    Sie schaffte ein paar weitere Schritte, bevor die einsetzende Bewegungsübelkeit sie einholte.

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