Die Seelenquelle
ganz mit dem Wenigen übereinstimmte, was sie über die Türkei wusste. Auch die Sprachfetzen, die sie beim Vorübergehen aufschnappte – von den Leuten in ihrer Nähe und den Straßenverkäufern, die ihr zuriefen –, klangen für sie arabisch. Dann war sie also nicht in der Türkei, sondern irgendwo im Nahen oder Mittleren Osten. Dieser Eindruck verstärkte sich schon im nächsten Augenblick, als aus einer Seitenstraße eine Gruppe von Frauen auftauchte, von denen jede einen schwarzen Schleier und eine Last auf ihrem Kopf trug – eine mit Früchten prall gefüllte Tasche oder ordentlich aufeinandergestapelte flache Brote.
Eine der Frauen erblickte Cass, stieß ihre Nachbarin an und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf die Fremde. Die Gruppe blieb abrupt stehen, drehte sich Cass zu und gaffte sie an.
Meine Kleidung! Plötzlich hatte Cass das Empfinden, dass sie ziemlich hervorstach, und fühlte sich sehr verwundbar. Ihr erster Gedanke war, etwas von einem der Straßenhändler zu kaufen, doch dann fiel ihr ein, dass sie nur eine Handvoll Kleingeld in einer fremden Währung bei sich hatte. Sie duckte sich hinter eine der Marmorsäulen, welche die Straße säumten, und passte hastig ihre Kleidung der neuen Umgebung an. Sie knöpfte ihr labberiges Hemd bis oben hin zu und zog die Schöße aus der Hose. Dann legte sie den Gürtel um ihr Hemd herum, sodass es wie irgendeine Art von kurzer Tunika aussah. Bei der Hose konnte sie nicht viel tun, doch sie klappte die Aufschläge auf und zog sie nach unten über die Stiefel. Anschließend nahm sie ihr Kopftuch und legte es so um, dass es auf ungefähr die gleiche Weise wie bei den anderen Frauen ihr Haar bedeckte. Alles in allem war diese dürftige Verkleidung nicht die beste Methode, um unter Einheimischen unbemerkt zu bleiben, doch es würde reichen müssen.
Als sie sich wieder in die Öffentlichkeit traute, hielt sie sich im Schatten auf und versuchte, unauffällig zu bleiben. Ihren Rucksack hatte sie sich wie ein Paket unter den Arm gesteckt, anstatt ihn anzulegen, und ging langsam die Straße entlang. Hin und wieder blieb sie stehen, um heimlich Fotos von diesem Ort zu schießen – für spätere Verwendung, wenn für sonst nichts. Aus irgendeinem Grund wurde sie besonders von Türen und Eingängen angezogen. Diese und sogar einige Mauern der umliegenden Gebäude waren auf eine charakteristische Weise aus schwarzen und weißen Steinen erbaut, die breite, sich abwechselnde Streifen bildeten. Die schwarzen waren aus Basalt, befand Cass, und die weißen aus hellem Kalkstein oder aus Marmor.
Bei näherer Betrachtung gab es hier und da Spuren anderer Perioden der Architektur. Es war eine Mischung aus verschiedenen Baustilen, von denen jeder kennzeichnend für ein Imperium aus der Vergangenheit war. So gab es griechische und römische Relikte aus dem klassischen Zeitalter, byzantinische, arabische und – wie es Cass erschien – osmanische Architektur, obschon sie keine Expertin auf diesem Gebiet war. Sie schritt unter einem stark beschädigten römischen Torbogen hindurch, der gleichwohl immer noch stand; zu beiden Seiten befanden sich Säulen, die für jene Epoche typisch waren und oben Darstellungen von Akazienblättern aufwiesen. Und einige Yards weiter gab es noch einen Torbogen, der jedoch die charakteristische arabische Zwiebelform besaß und eine byzantinische Bronzetür umrahmte.
Sie ging weiter und kam schließlich zur Stadtmauer, in der es ein gewaltiges dreifaches Tor gab: Zwei kleinere Türen flankierten ein großes, zentrales Portal; und alle drei waren weit geöffnet. Cass, die hindurchblickte, konnte einen breiten, von Palmen gesäumten Boulevard sehen, auf dem es außerhalb der Stadtmauer in beiden Richtungen Verkehr gab. Merkwürdigerweise befuhren nur wenige Gefährte diese Durchgangsstraße – bei einer geschäftigen Stadt wie dieser hätte Cass mehr erwartet. Und all diese Fahrzeuge sahen so aus, als gehörten sie in ein Museum für Motorfahrzeuge. Mit ihren tiefliegenden Fahrgestellen, kleinen Fenstern, dicken weißwandigen Reifen und gerundeten Kotflügeln, die schwungvoll in die Trittbretter übergingen, waren diese Pkws und kleinen Lkws mit Sicherheit aus einer anderen Epoche. Cassandra hatte das Gefühl, als würde sie durch den Set für einen Film über die Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts vorbeischlendern.
Also war sie nicht nur durch den Raum gereist, sondern auch durch die Zeit. Die Wissenschaftlerin in ihr empörte sich gegen
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