Die Seelenquelle
diese Vorstellung und schrie: Unmöglich! Doch selbst als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, meldete sich eine andere Stimme, die fragte: Etwa unmöglicher als das Reisen von einem Ort zum anderen, bei dem man eine ziemlich gute Imitation von »Beam mich hoch, Scotty!« erlebte?
Die Möglichkeit einer Wanderung durch die Zeit war ihr einfach niemals in den Sinn gekommen, und sie benötigte einen Moment, um sich noch mit einem weiteren radikalen Paradigmenwechsel anzufreunden. Alles, was sie wusste, war offensichtlich falsch. Man würde eine neue Theorie entwickeln müssen, um eine Erklärung für diese neue Wirklichkeit zu haben. Cass drehte sich um und starrte die Straße hinunter. Nichts, was sie sah, stand im Widerspruch mit der Zeitreisen-Prämisse; doch es gab auch nichts, was sie ohne Weiteres bestätigte. Die Architektur stammte sicherlich aus früheren Zeiten, doch das traf auf die meisten Orte überall in der Region zu. Die Leute waren in einfachen Gewändern gekleidet, die zu jeder Dekade in den letzten zweihundert oder mehr Jahren gehören konnten; aber erneut galt, dass dies kein Beweis darstellte. Die Fahrzeuge allein gaben ihr einen Anhaltspunkt: Für ein oder zwei von ihnen könnte man noch eine andere plausible Erklärung finden – doch jedes Einzelne von ihnen gehörte dem Zeitalter an? Nein. Wenn man daher alles zusammennahm, führten diese Hinweise zu der Schlussfolgerung, dass sie – zusätzlich zu der Reise durch den Raum – auf irgendeine Weise durch die Zeit in eine vergangene Epoche gerutscht war.
Da sie nicht gewillt war, noch weiter von der einzigen Straße wegzugehen, die sie hier kannte, wandte sich Cass um und machte sich auf den Weg zurück. Während sie die Straße entlangschlenderte, betrachtete sie die in einem Ziegel-und-Holz-Stil errichteten Gebäude, zwischen denen es auch stabilere Steinbauten gab. Sie ging an einer Kirche vorbei, vor der ein Eisentor mit Filigranarbeiten stand. Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite war eine Moschee mit einer grünen Kuppel, auf der sich oben ein Halbmond aus Messing befand. Wenig später schritt Cass abermals durch den römischen Torbogen. Im nächsten Augenblick bemerkte sie auf der anderen Seite einen Torweg mit einem großen Portal, der von einem Bogen aus sich abwechselnden schwarzen und weißen Steinen umrahmt wurde. Die gewaltigen Holztüren waren geöffnet und gaben so den Blick frei auf einen überdachten Marktplatz. Verschleierte und von Stoffen vollkommen eingehüllte Frauen waren rund um den Eingang zum Platz zusammengekommen und plauderten miteinander. Sie blickten Cass flüchtig an, starrten jedoch nicht auf sie, und dafür war sie dankbar. Hinter den Frauen konnte sie Händler erkennen, die Gemüse und Kleidungsstücke verkauften. Die Verkaufsstände befanden sich auf beiden Seiten eines langen Ganges, der sich im dunklen Innern des Basars verlor. Cass trat auf den Eingang zu und hielt sich dabei am Rande der umherschlendernden Menschenmenge auf. Als sie sich der Mauer mit dem Torbogen näherte, fiel ihr Blick auf ein Hinweisschild: Es war nur ein einzelnes Blatt aus orangefarbenem Papier, das man auf den Wandverputz geklebt hatte und auf dem ordentliche schwarze Buchstaben und Ziffern gedruckt waren. Der Text war in Englisch. Automatisch blieb Cass stehen und las:
Fühlen Sie sich verloren? Einsam und verlassen?
Suchen Sie nach etwas, woran Sie glauben können?
Wir können Ihnen helfen
Sie wünschen Informationen? Rufen Sie an unter
Damaskus 88–66–44
Oder kommen Sie persönlich vorbei – zur
22 Hanania Street nr.
Beit Hanania
Die Zetetische Gesellschaft
Abermals las sie die Worte und hatte dabei das unheimliche Gefühl, dass auf irgendeine unerklärliche Weise – und obwohl dies vollkommen unwahrscheinlich zu sein schien – die Botschaft auf diesem Hinweisschild für sie bestimmt war. Sie stand da und war von dem orangefarbenen Plakat völlig in den Bann geschlagen – wie von der tanzenden Flamme eines Feuers. Derweil erhärtete sich in ihr die Überzeugung, dass sie sofort zu diesem Ort gehen musste. Und dass all ihre Fragen beantwortet würden, wenn sie nur diese Zetetische Gesellschaft finden könnte.
Zumal eine ihrer Fragen bereits beantwortet worden war: Sie wusste jetzt, dass sie nicht in der Türkei war, sondern in Syrien. Was sonst noch konnte ihr diese mysteriöse Gesellschaft sagen?
DRITTER TEIL
VIERZEHNTES KAPITEL
D er Nil floss ruhig dahin, ohne dass auch nur ein Kräuseln unter
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