die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
sich auf unsicheren Beinen und löste sich aus seinen Armen. Sie gratulierte sich selbst, ein seltenes Mal Mut gezeigt zu haben, und stakste langsam zum Fluss. Das Rascheln des Grases verriet ihr, dass Areas ihr folgte.
Kleine Fische stoben mit silbern blitzenden Flossen auseinander, als ihre Füße durch die warmen Untiefen wateten. Nach einem Dutzend Schritten erreichte der Bach ihre Hüfte. Sie nahm Wasser in ihre hohlen Hände und streckte die Arme weit aus. „Segne die Schildkröte, die Leben schenkt”, murmelte sie, als das Wasser durch ihre Finger tropfte.
An ihrer Seite antwortete Areas: „Und segne die wilde Möhre, die es verhindert.”
Sie grinste ihn an und beugte sich dann vor, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Mit einem sanften Stoß brachte er sie zum Umfallen. Sie zappelte einen Augenblick, ehe er ihren Arm gerade rechtzeitig ergriff, um sie vor dem Untergehen zu retten.
„Hey!” Mit der freien Hand schlug sie ihm gegen die Brust. „Nach dem, was gerade passiert ist, könntest du aufhören, mich als kleines Mädchen zu sehen, das du ärgern kannst.”
„Erwachsene Frauen beschmieren andere nicht mit Beeren.” Er beugte sich vor, um die klebrige Masse aus seinem Haar zu waschen. „Außerdem macht es mir Spaß, dich zu ärgern. Würdest du mir das nehmen wollen ...” Plötzlich richtete er sich auf und blickte hinüber zum Ufer. „Da kommt jemand.”
„Ich kann nichts hören.”
„Sie sind noch weit entfernt.” Er horchte noch einen Augenblick, seine Bärensinne angespannt. „Aber sie kommen schnell.”
Sie planschten durch das Wasser zurück zur Lichtung und rannten den Hügel hinauf bis dorthin, wo sie ihre Kleidung zurückgelassen hatten. Areas half ihr, ihr Kleid zu schließen, und beeilte sich dann, seine Hosen und sein Hemd anzuziehen. Rhia hörte das Donnern sich nähernder Hufe.
Areas wandte sich dem anderen Ende der Lichtung zu und schirmte mit der Hand die Augen vor der Sonne ab. Zwei Punkte näherten sich, einer weiß, der andere kastanienbraun.
„Ist das da dein Bruder, auf der grauen Stute?”, fragte Areas sie. „Er treibt sie furchtbar hart an.”
„Das tun die beiden immer.” Rhia saß im Gras, um sich die Schuhe anzuziehen. „Besonders Lycas. Er kann nicht auf den Markt gehen, um Milch zu kaufen, ohne so zu tun, als wäre ihm ein Lauffeuer auf den Fersen.” Sie lachte in sich hinein, selbst als eine undefinierbare Angst ihr Herz zum Klopfen brachte.
„Das ist er. Und ... mein Vetter Gorin?” Er drehte sich zu ihr um. „Sie mögen einander nicht mal. Warum sollten sie ...”
Rhia hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie sah ihren Bruder, der sich tief über den Hals seines weißen Pferdes beugte. Sein Haar, genauso schwarz und glänzend wie das ihrer Mutter, wehte hinter ihm im Wind. Sie begann zu rennen.
Sie trafen rasch aufeinander. Die hinteren Hufe von Lycas’ Pony rutschten, als er es zum Stehen brachte. Sein Gesicht war nass vor Schweiß, jedenfalls hoffte Rhia, dass es nur das war, und seine dunklen Augen sahen sie lodernd an.
„Es ist Mutter”, sagte er. „Ich glaube, sie stirbt.”
4. KAPITEL
R hia klammerte sich an die Hüfte ihres Bruders und versuchte, den Schmerz, der ihren Körper entzweizuspalten schien, nicht zu beachten. Die Gangart des Ponys war schnell, aber nicht gleichmäßig – jeder Galoppsprung drohte sie in der Mitte zu zerreißen.
Und doch machte es ihr kaum etwas aus. Ihre Mutter lag im Sterben. Rhia hatte keine Zeit gehabt, Lycas Fragen zu stellen, ehe Areas sie hinter ihren Bruder gesetzt und sie sich auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Jetzt würde der Wind, der Lycas’ Haare in ihr Gesicht schlug, ihre Stimme davontragen – ganz zu schweigen vom Trommeln der Hufe und dem schweren Atem der Stute. Das arme Tier war verausgabt, aber es hielt sich tapfer.
Rhia wandte den Kopf und bemühte sich, die Hufschläge von Areas’ Pony zu hören, dem Pony, das Gorin gebracht hatte, der geblieben war, um auf die Schafe aufzupassen. Aber der Wind verschluckte alle Geräusche, und selbst diese kleine Bewegung drohte sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vielleicht, dachte sie, sollte ich mich auf den Schmerz konzentrieren. Lieber auf das als auf die Szene, die vor mir hegt. Was werde ich sehen, wenn ich nach Hause komme? Werden die schweren Flügel sich heben oder davonrauschen? Sie hatte sich noch nie einem Menschen gestellt, dessen Tod kurz bevorstand. Jetzt wünschte sie, sie hätte es getan, damit
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