die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
ungeschickt nach dem Riegel.
„Was machst du da?” Lycas schüttelte sie bei den Schultern. „Sie kann dich hören, du dummes Ding.”
Scharf atmete sie ein und erstickte die eigenen leiderfüllten Schreie. Ihre Lippen waren so fest zusammengepresst, dass sie beinah weiß wurden. Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie ihr Vater vor Lycas trat. Er zog sie fest an sich.
„Papa, es tut mir leid”, flüsterte sie gegen seine Brust.
Er streichelte ihr Haar. „Ich weiß. Ich wusste, schon ehe du gekommen bist, dass wir nichts tun können. Dennoch habe ich gehofft ...” Tereus schnitt sich selbst das Wort ab und trat ein Stück zurück, um sie anzusehen. Er strich ihr eine Haarsträhne, die nass vor Tränen war, von der Wange. „Ich wünschte nur, du müsstest es nicht so deutlich sehen.”
„Ich sehe es nicht nur, Papa. Ich fühle es.” Ihre Seele schien so schwer zu sein wie ein Sack voll nasser Saat, und sie wollte zusammenbrechen, wollte sich dem Gewicht des bevorstehenden Todes ihrer Mutter ergeben.
Der große Vogel, den sie auf ihrer Schulter spürte, war nicht echt. Sie konnte ihn nicht mit ihren Augen sehen, nicht mit ihren Händen berühren. Aber er berührte sie, seine Krallen drückten sich in ihre Haut, und in diesem Augenblick war er die wirklichste Sache im ganzen Raum.
„Geh zu ihr”, sagte Tereus. „Und Lycas hat recht, du musst stark sein. Trockne dir die Augen.”
Rhia atmete tief ein und spannte jeden Muskel an, um die Kontrolle zu bewahren. Ihr Ausatmen war schon weniger bebend. Entschlossen wischte sie sich die Wangen und die Höhlen unter ihren Augen trocken.
Ihre Beine trugen sie wie von selbst durch den Raum, und sie war ihnen dankbar dafür. Zum ersten Mal bemerkte sie Galen, der zu Mayras Füßen auf dem Boden saß. Er betrachtete sie mit einem undurchdringlichen Blick, als sie an ihm vorbeiging.
Das Gewicht auf ihren Schultern und auf ihrem Gewissen wurde mit jedem Schritt schwerer. Es war eine Erleichterung, auf das Bett neben ihre Mutter zu sinken. Sie griff nach Mayras Hand, doch dann zögerte sie. Mayras Augen waren geschlossen, ihr Gesicht war entspannt, ihre Haut bleich, ihr dunkles Haar behutsam auf dem Kissen zurechtgelegt. Sie sah friedlich aus – und vollkommen fremd.
Wer war diese Fremde? Eine zukünftige Leiche. Nicht ihre Mutter. Dann bestand doch keine Gefahr.
Sie berührte Mayras Hand, und ihre Mutter öffnete die Augen. Sofort verschwand die Distanz zwischen ihnen. Rhia fühlte sich wieder leicht, als wäre sie nur eine Tochter. Sie hielt ihre Tränen zurück, aber sie wusste, dass ihre Augen dennoch glänzten, als sie die sterbende Frau ansah.
Mayras Daumen zuckte an Rhias Handgelenk, als versuchte sie, ihre Hand zu drücken. Sie öffnete ihre trockenen Lippen, um zu sprechen, jedoch erfolglos.
„Schsch”, flüsterte Rhia. „Wir können später reden, wenn du dich ausgeruht hast.”
Mayra kniff ungläubig die Augen zusammen. Sie neigte das Kinn, um Rhia näher zu sich zu bitten. Rhia beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren.
„Ja?”, war alles, was ihre Mutter sagte. Rhia sah ihr in die Augen und nickte langsam. Eine Träne löste sich von ihren Wimpern und fiel auf Mayras Lippen.
„Es tut mir leid, Mutter. Ich wünschte ...” Flehend sah sie Mayra an, erwartete von ihr Trost oder gutes Zureden, wie immer, wenn Rhia bekümmert war.
Stattdessen starrte Mayra nur mit großen, starren Augen an die Decke. Ihre Hand wurde kalt.
„Mutter?” Fast panisch schüttelte Rhia sie an der Schulter. „Mama?”
Mayra blinzelte und nahm einen langsamen Atemzug, der ihr Schmerzen zu bereiten schien. Ohne Rhia anzusehen, flüsterte sie: „Ich habe Angst.” Noch ein langer Atemzug. „Ich habe Angst, Rhia. Hilf mir.”
Rhias Blick fiel auf Galen. Der hielt den Blick auf Mayra gerichtet und seufzte.
Die Tür öffnete sich hinter ihr. Die massige Gestalt von Areas erschien neben Nilos muskulösem Körper. Die zwei Männer waren nur Umrisse im Sonnenschein, der von draußen hereinschien, also konnte sie ihre Gesichter nicht erkennen. Eine geflüsterte Unterredung mit Lycas gab die schlimmen Nachrichten weiter.
Rhia drehte sich wieder ihrer Mutter zu und fühlte in ihrem Rücken jeden Blick im Haus, das immer voller wurde und zunehmend erdrückend schien.
Mayras Lippen bewegten sich und formten ein einziges Wort. „Wann?”
Rhia sah zu Galen.
„Du kannst es wissen”, sagte er.
Sie wendete sich an ihre
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