Die Seelenzauberin - 2
Gefangene war Kato nicht geheuer.
Es gab keine Veranlassung dafür. Er war seit zehn Jahren Gefangenenwärter, zuerst in der Burg eines kleineren Edelmanns im Süden, der mit Vorliebe seine politischen Feinde in die Verliese warf, und nun hier in der Zitadelle. Die Pflichten waren mehr oder weniger die gleichen. Halte die Türen geschlossen. Sorge dafür, dass die Gefangenen gerade so viel Essen erhalten, um am Leben zu bleiben, aber nicht unbedingt satt werden. Rufe um Hilfe, wenn etwas Unerwartetes geschieht.
Aber …
Heilige Hüter steckte man nicht in den Kerker. Das wusste er.
Und einem Obersten Hüter widersprach man nicht. Nicht öffentlich, nicht unter vier Augen, nicht einmal in den dunkelsten Winkeln des eigenen Kopfes. Niemals.
Was aber war zu tun, wenn diese beiden Gebote zueinander in Widerstreit gerieten?
Denk nicht darüber nach , befahl er sich, wenn er seine Runden machte, durch die vergitterte Öffnung in jeder Tür spähte und sich vergewisserte, dass der Gefangene noch in seiner Zelle und am Leben war. Letzteres war nicht bei allen gleich wichtig. Tu einfach deine Arbeit. Trotz seiner beeindruckenden Ausmaße war der Kerker fast leer. So dicht am Heiligen Zorn hielten die Gefangenen nicht lange durch – ein Geist, der bereits durch die Haft und von Angst geschwächt war, konnte dieser bösartigen Macht nicht über längere Zeit standhalten. Wer also für Meister Anukyat wirklich von Wert war, wurde im Allgemeinen nach Süden geschickt und dort sicher untergebracht. Vielleicht würde man bald auch mit diesem Hüter so verfahren. Vielleicht wäre er in Kürze nicht mehr da, dann bräuchte Kato sich seinetwegen keine Sorgen mehr zu machen.
Mit einem Seufzer ließ er sich auf die grob gezimmerte Bank nieder, die er sich vor die Zelle des Hüters gestellt hatte, und goss sich aus einem Krug auf dem Tisch daneben einen Becher warmes Bier ein. Anukyats Zitadelle befand sich an der äußersten Grenze der Macht des Heiligen Zorns. Das bedeutete, ein gesunder, kräftiger Mann konnte den Tag gut überstehen, aber Kato beneidete die Soldaten nicht, die weiter im Norden Wachdienst schoben. Manchmal glaubte er sie im Schlaf schreien zu hören. Möglicherweise hörte er auch nur sich selbst, wenn ihn die eigenen, vom Heiligen Zorn erzeugten Albträume quälten. Wie auch immer, auf dieser Region lag ein Fluch. Wenn man ihn fragte – was allerdings nie jemand tat –, hatten die Alkal-Krieger genau richtig gehandelt, als sie die Zitadelle schon in grauer Vorzeit verließen.
Andererseits war der Sold im Schatten des schrecklichsten Fluchs dieser Welt großzügig, und das machte die Albträume schon etwas erträglicher. Das jedenfalls beteuerte Kato sich selbst immer wieder.
Seufzend nahm er einen tiefen Zug aus seinem Becher. Er war so völlig in seine Betrachtungen vertieft, dass er die Schritte auf der Treppe fast überhört hätte.
Aber nur fast.
Er stellte den Becher ab und schaute auf. Eigentlich rechnete er mit einem Boten von Meister Anukyat, vielleicht sogar mit dem Meister selbst. Er wollte doch sicher nach seinem jüngsten Schützling sehen, dachte Kato. Zum Beispiel, um sich zu vergewissern, dass er noch lebte.
Aber es war weder Anukyat noch sein Bote. Es war überhaupt kein Mann.
Sie war hochgewachsen und barfuß und trug nur ein Männerhemd aus Leinen, das vorne offen stand. Sie hatte unglaublich lange Beine, und das Hemd reichte ihr nur bis zu den Oberschenkeln und bedeckte kaum ihre Blöße. Wo der Ausschnitt auseinanderklaffte, lugte auf einer Seite die Wölbung einer Brust hervor, die rötliche Warze schimmerte verführerisch durch den dünnen weißen Stoff. Und erst ihr Haar! Es brannte wie Feuer und war so zerzaust, als wäre sie eben erst aus irgendeinem Bett gekrochen.
Kato gab sich alle Mühe, sie nicht anzustarren, aber er scheiterte kläglich. Zwar schaffte er es, nach den ersten Sekunden den Mund zu schließen, aber dafür war er sprachlos.
»Bist du Kato?«, fragte ihn die Erscheinung.
Er nickte stumm.
Sie lächelte und ging auf ihn zu. Beim Anblick der wogenden Brüste unter dem dünnen Stoff schoss alles Blut in seine Lenden. Sein Gehirn war lahmgelegt.
»Oben sagte man mir, deine Arbeit hier wäre ziemlich aufreibend und du würdest dich über eine kleine … Abwechslung freuen. Ist das wahr?«
»Wer … wer hat das gesagt?«, stammelte er.
Sie trat einen Schritt näher und legte ihm eine Hand auf die Brust. Er roch ihren Duft. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über
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