Die Seelenzauberin - 2
weniger Stunden, wenn nicht schon früher, würde der abtrünnige Meister Anukyat feststellen, dass sein Gefangener entkommen war, und ihm sicherlich jeden erreichbaren Hüter auf die Fersen hetzen. Ihre einzige Hoffnung lag darin, möglichst weit weg zu sein, bevor das geschah. Zu Pferd wäre das vielleicht möglich. Zu Fuß … er schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf. »Und wenn wir Pferde haben wollen?«, fragte er. »Was ist dazu erforderlich?«
»Hinterlist«, antwortete sie. »Und der Segen der Götter.«
Rhys nickte ernst. »Dann lassen wir die Götter entscheiden.«
Er ergriff das Bündel mit dem Proviant und folgte ihr ans hintere Ende des Raumes. Dort befand sich eine schwere Tür mit einem kleinen Gitterfenster; die Eisenstangen ließen ein wenig Licht ein, sodass sie besser sehen konnten. Sie spähte hinaus, dann schob sie möglichst leise den schweren Eisenriegel zurück. Als die Tür aufschwang, quietschte eine der gusseisernen Angeln. Beide erstarrten, verharrten atemlos und lauschten. Aber niemand tauchte auf, um nachzusehen, und nach einigen Sekunden nickte die Frau und stieß die schwere Tür vollends auf.
Frische Luft schlug Rhys ins Gesicht. Sie roch kühl und würzig, auch wenn bei genauerer Prüfung eine leichte Beimischung von Pferdemist und verfaulenden Küchenabfällen festzustellen war – doch für Rhys roch sie auch nach Freiheit. Er atmete sie in tiefen Zügen ein, während er die Szene ringsum in sich aufnahm. Während seiner Gefangenschaft war die Nacht hereingebrochen, und am Himmel stand klar und weiß ein einziger Vollmond. Es war also kurz vor Mitternacht. Sie hätten auf ihrem Ritt noch für mehrere Stunden natürliches Licht. Das war ein Vorteil.
Er fragte sich, ob sie die Mondphase in ihre Pläne einbezogen hatte. Zuzutrauen wäre es ihr.
Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, führte sie ihn zu einem Pfad, der hinter mehreren Schuppen und Scheunen im Schatten lag und vom Hof aus nicht einzusehen war. Aus einem Gebäude drang das laute Gelächter eines Betrunkenen und das Klappern von Würfeln. Wahrscheinlich die Kaserne. Sein Herz klopfte schneller, als sie so dicht an Anukyats Soldaten vorbeischlichen, aber niemand bemerkte sie. Es war, wie sie bereits vermutet hatte: Hier fürchtete sich offenbar niemand vor einem Angriff von innen.
Bisher schienen ihnen die Götter also gnädig zu sein.
Irgendwann blieb sie stehen und winkte ihn zu sich. »Der Stall«, flüsterte sie. Der Hinweis war überflüssig. Das Gebäude verströmte einen Geruch, der für jeden Reiter unverkennbar war: eine Mischung aus Heu, Mist und gut geöltem Leder. Sie mussten eine freie Fläche überqueren, um dorthin zu gelangen, und die Frau blieb stehen und sah sich misstrauisch nach allen Seiten um. Schließlich nickte sie zum Zeichen, dass niemand sie beobachtete, und sie rannten zur Rückseite des Stalls, wo sie wieder im Schatten waren. Im Laufen wandte er den Kopf, um rasch einen Blick auf das Gebäude zu werfen, aus dem er mit knapper Not entkommen war.
Unvermittelt blieb er stehen.
Und riss die Augen auf.
Hinter ihnen – gleich hinter der eigentlichen Zitadelle – erhob sich ein riesiger Felsenturm, so hoch, dass seine Spitze im Nebel verschwand. Ein überwältigender Anblick! Über die Außenseite zogen sich Streifen wie bei einer Bergflanke, die Wind und Wetter ausgesetzt war, aber noch imposanter und bizarrer, lange, tiefe senkrechte Furchen, die bis zur Spitze hinaufreichten. Dazwischen klafften immer wieder tiefe Löcher in der Fassade. Durch eine dieser Höhlungen schien sogar das Mondlicht, es sah aus, als dränge es einfach durch den Stein. Die Zitadelle wuchs aus dem Sockel dieses Monuments, und im Dunkel der Nacht war nicht zu erkennen, wo der natürliche Fels endete und das von Menschenhand errichtete Gebäude anfing …
Dann schlug ihm seine Retterin so fest auf den Rücken, dass ihn seine verletzte Schulter wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
In den Stall fiel gerade so viel Mondlicht, dass sie den Blendschirm der Laterne nicht sofort öffnen musste; sie konnten im Vorbeigehen in die Verschläge hineinsehen und prüfen, welche Tiere für ihre Zwecke geeignet waren. Ein paar Pferde schnaubten leise, aber die meisten schienen zu schlafen. Der Bauweise nach zu urteilen, war der Stall anfangs kleiner gewesen und dann mehrfach vergrößert worden. Im ursprünglichen Teil waren die Verschläge nach vorne hin offen. Nur eine halbhohe Wand trennte die menschlichen
Weitere Kostenlose Bücher