Die Seelenzauberin - 2
Blick des Gardisten auf ihn richtete. Da er wusste, wie sehr sich solche Männer auf ihren Instinkt verließen, umgab er sich mit einer Aura von herrischer Ungeduld: Er und sein Begleiter waren Kuriere, sie hatten einen dringenden Auftrag, der nicht bis Sonnenaufgang warten konnte, sie hatten nicht einmal Zeit, ihre Pferde anzuhalten, bis das Tor geöffnet wurde. Wer demselben Herrn diente wie sie, würde ihren Wunsch nach Eile sicherlich verstehen und ihnen den Weg frei machen …
Einen Atemzug lang schien die Zeit stillzustehen, während der Posten überlegte. Rhys fragte sich, ob es wohl dunkel genug war, um all die Unstimmigkeiten in ihrem Aussehen zu verdecken, die ihn warnen könnten. Anscheinend ja, denn der Mann wandte sich dem Tor zu und gab einigen Untergebenen, die seitlich davon im Schatten warteten, den Befehl, es zu öffnen.
Genau im richtigen Moment.
Als sie durch das Tor ritten, hob die Frau hinter Rhys die rechte Hand und rückte ihren Helm zurecht, so konnte der Diener auf dieser Seite ihr Gesicht nicht sehen, aber der Mann war ohnehin zu sehr damit beschäftigt, sich vor den donnernden Hufen in Sicherheit zu bringen, um genauer auf ihr Äußeres zu achten. Und die Götter schienen ihnen tatsächlich gewogen zu sein. Das Tor selbst warf im Mondlicht einen tiefen Schatten, der sie nahezu unsichtbar machte.
Niemand befahl ihnen anzuhalten. Niemand gab Alarm. Hinter ihnen schwangen die schweren Flügel langsam zu, und Rhys hörte noch, wie die eisernen Riegel vorgelegt wurden. Anukyats Zitadelle war wieder verschlossen.
Sie wagten nicht, langsamer zu werden, solange sie noch in Sichtweite waren, sondern folgten einem deutlich erkennbaren Pfad, der wahrscheinlich von den regulären Streifen benützt wurde, nach Süden. Der Pfad war stark ausgetreten, das war günstig; so würde morgen früh niemand mehr ihre Hufspuren herausfinden oder feststellen, dass sie es gewesen waren, die irgendwann den Hauptweg verlassen hatten. Wenn sie einige Meilen zurücklegen konnten, bevor Rhys vermisst wurde, und auch von den Wachtürmen der Zitadelle nicht mehr zu sehen wären, mochte ihre Flucht glücken.
Nach Süden.
Rechts von ihnen erhob sich ein Felsenturm ähnlich dem an der Zitadelle, und ein paar Meilen weiter westlich ragte ein dritter in den Himmel. Die Drei Schwestern. Der Überlieferung zufolge befanden sich die berühmten Wahrzeichen zu weit südlich, um dem Einfluss des Zorns ausgesetzt zu sein, aber die Hexe, die ihn begleitete, war davon offenbar nicht überzeugt. Wenn sie recht hatte, war der Heilige Zorn dabei, seinen Machtbereich zu erweitern. An der Quelle mochten seine Kräfte geschwächt und in ihrer Wirkung weniger zielgerichtet sein, aber dafür sickerten sie weiter nach außen in die Landschaft ein. Das war keine gute Nachricht.
In Alkal ist etwas aus den Fugen geraten , dachte er. Und ich werde das Land erst verlassen, wenn ich herausgefunden habe, was hier nicht stimmt.
Seine Begleiterin zügelte plötzlich ihr Pferd, und er hielt ebenfalls an. Sie waren an eine Art Kreuzweg gekommen, mehrere frische Pferdespuren querten den Pfad, dem sie bisher gefolgt waren. Wenn sie jetzt die Richtung änderten, wäre das für eventuelle Verfolger vermutlich nicht zu erkennen. Später könnten sie auch den zweiten Pfad verlassen und durch eine wahrhaft unberührte Landschaft reiten, ohne dass irgendjemand etwas davon ahnte.
Hier also mussten sich ihre Wege trennen.
Er schaute zu ihr auf und sah überrascht, dass sie lächelte. Es war ein schwaches, rätselhaftes Lächeln, und es machte ihn für einen Moment ratlos. Er hatte das Gefühl, schon seit Wochen mit ihr auf Reisen gewesen zu sein, nicht erst seit ein paar Stunden. Man fühlte sich seltsam vertraut, wenn man gemeinsam dem Tod ins Auge geblickt hatte.
»Ihr habt Euer Leben eingesetzt, um mich zu befreien«, sagte er leise. »Und ich kenne noch nicht einmal Euren Namen.«
Sie schrak zusammen, als hätten seine Worte sie überrascht. Aber wieso? Sie war doch wohl kaum in die Zitadelle eingedrungen und hatte einen so verwickelten Plan geschmiedet, um ihm zur Flucht zu verhelfen, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, in die sie sich begab? Oder hatte sie nur vergessen, dass sie sich ungeachtet ihres Versprechens noch immer nicht richtig vorgestellt hatte? »Kamala«, sagte sie schließlich. Kein Familienname, kein Wohnort, kein Titel. Rhys konnte nicht einmal sagen, aus welcher Gegend der Name stammte. Er war ebenso geheimnisvoll wie seine
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