Die Seelenzauberin - 2
andere Stimme protestierte, das sei schlechterdings unmöglich, und wenn sie doch daran glaube, müsse sie verrückt sein.
Sie schaute zu Amalik zurück. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt und zeigte keine Regung. Er nickte nur.
Ein Seelenfresser.
Ein langer, geschmeidiger Körper, über und über von bläulich schwarzen, mit Erde und Schutt verkrusteten Schuppen bedeckt. Die riesigen Schwingen, die sich bei mehr Bewegungsfreiheit auf dem Rücken hätten entfalten können, waren fest an die Seiten gepresst. Die unnachgiebigen Wände der Schlucht hielten das Wesen gefangen. Immer wieder versuchte es, die Flügel auszubreiten, und schrie dabei vor Verzweiflung. Es wollte sich offensichtlich in die Lüfte erheben, aber solange es in dieser engen Schlucht steckte, würde ihm das nicht gelingen.
Wieder sah sich Siderea nach Amalik um; in ihrem Kopf drängten sich so viele Fragen, dass sie sich kaum entscheiden konnte, welche sie zuerst stellen sollte. Endlich stieß sie hervor: »Ist … ist das die Macht, von der Ihr gesprochen habt? Dieses Wesen?«
»Sie sammeln die Energie des Lebens«, sagte er. »Und sie nehmen mehr, als sie selbst brauchen.« Er blickte in die Spalte hinab. »Sie kann Euch die verlorenen Kräfte ersetzen.«
»S-sie?«, stammelte Siderea.
»Es ist ein Weibchen dieser Art. Nur ein Weibchen unserer Art kann von seinen Kräften zehren.« Wieder hefteten sich die schwarzen Augen auf Siderea. »Begreift Ihr jetzt, warum man Euch ausgewählt hat?«
Im Abgrund entstand plötzlich Bewegung. Der Seelenfresser strebte mit schier unglaublicher Geschwindigkeit der Felslawine an einem Ende der Schlucht zu. Scharfe Klauen blitzten auf und gruben sich wie die Krallen eines Greifvogels tief in das Geröll. Steinchen und Staub stoben nach allen Seiten, das Wesen begann zu klettern, und Siderea trat unwillkürlich zurück, um möglichst weit weg zu sein, wenn es über dem Rand erschien …
Doch dann stieß von oben ein großer schwarzer Schatten herab. Siderea keuchte erschrocken auf und wich zurück. Fast wäre sie auf dem steinigen Boden gestolpert.
Ein zweiter Seelenfresser.
Mit einem Warnschrei ließ sich der Neuankömmling auf das Weibchen hinabfallen. Er war mindestens doppelt so groß, sein geschmeidiger Körper war sauber und glänzte im Sonnenlicht. Das Weibchen richtete sich hoch auf, als wollte es den Kampf aufnehmen, aber es war kleiner, und irgendwie spürte Siderea, dass es nicht in der richtigen Verfassung für eine solche Auseinandersetzung war. Der Angreifer zwang es, von dem Steinhaufen abzulassen, und im letzten Moment entschloss es sich mit wütendem Zischen zum Rückzug. Siderea sah entsetzt und zugleich wie gebannt, wie das Weibchen auf den Boden der Spalte zurückfiel, und hörte seine Schmerzensschreie durch die ganze Schlucht hallen. Eine der zerbrechlich wirkenden Schwingen war unter seinen Körper geraten und wurde zerdrückt. Der Angreifer war anscheinend befriedigt und entfernte sich.
Er wollte nicht zulassen, dass das Weibchen frei fliegen konnte. Die Felslawinen, die es gefangen hielten, waren wohl nicht zufällig niedergegangen, sondern absichtlich ausgelöst worden, um ein Gefängnis zu schaffen.
Was im Namen aller Götter hatte das zu bedeuten?
Sie richtete den Blick nach oben und folgte dem größeren Seelenfresser, bis er landete. Zu ihrem Schrecken entdeckte sie an verschiedenen Stellen im oberen Bereich der Schlucht noch weitere der Kreaturen. Mythische Gestalten; der Stoff, aus dem Albträume gemacht waren. Diese beobachteten das Weibchen in der Spalte unverwandt, um sofort eingreifen zu können, falls es einen weiteren Befreiungsversuch unternähme. Daneben standen Männer, reckten die Hälse und belauerten das Schauspiel wie hungrige Geier. Siderea erkannte einen ihrer Führer, den mit der gelben Haut, bei einem der Seelenfresser, und stellte im unmittelbaren Vergleich fest, dass seine Kleidung der Haut des Ungeheuers sehr ähnlich war, aber Spuren starker Beanspruchung zeigte. Wesen aus urzeitlichen Albträumen, im Bund mit Menschen, die sich in ihre Haut hüllten …
Es war zu viel, es überstieg ihren Verstand. Sie legte die Hand an die Stirn – Schwindel überfiel sie, diesmal nicht infolge ihres geschwächten Zustands, sondern einzig und allein, weil ihre Nerven überreizt waren. Ihre Hände zitterten, und sie wusste nicht, wie sie sie ruhig halten sollte. Sie konnte an nichts anderes denken als an das Bild des Seelenfressers vom Königspass, das
Weitere Kostenlose Bücher