Die Seelenzauberin - 2
Colivar in ihrem Palast beschworen hatte … ein schwarzer Dämon über einem Feld voll ausgeweideter Körper, der seine Kraft aus dem Leid der Menschen bezog. Damit sollten sich diese Männer verbündet haben? Wie war so etwas möglich? Als die Seelenfresser das letzte Mal die Erde heimgesucht hatten, waren Menschen ihre Beute gewesen. Die beiden Arten nun Seite an Seite zu sehen, zwang zu Schlussfolgerungen, gegen die ihr Verstand sich vorerst noch wehrte.
Unten regte sich das Weibchen und versuchte, den eingeklemmten Flügel unter seinem Körper hervorzuziehen. Aber dafür hatte es nicht genügend Platz. Wieder brüllte es auf, ein langgezogener Klagelaut voller Angst und Schmerz, als flehte ein verletztes Tier um Hilfe. Die glänzend schwarzen Augen suchten nach Siderea und hefteten sich auf sie; ein Blick, der über sie hereinbrach wie eine Flut. In diesem Moment glaubte sie, den Schmerz der Kreatur zu spüren, als wäre es ihr eigener.
»Sie brauchen Sonnenlicht auf den Schwingen«, erklärte Amalik. Er war näher an sie herangetreten, als ihr lieb war, aber sie konnte den Blick nicht von dem Wesen wenden. »Ohne Sonne wird sie von Tag zu Tag schwächer.«
»Und warum hält man sie dann da unten fest?«, wollte Siderea wissen. Ihre Kehle war so wund, als hätte sie selbst aus Leibeskräften geschrien. War es möglich, dass sie mit dem Wesen Mitleid verspürte? Sie nähren sich von den Seelen der Menschen , ermahnte sie sich. Und sie hätten einmal fast die ganze Welt ins Verderben gestürzt.
»Sie begreift nicht, dass die Menschen sie sehen könnten, wenn sie zu hoch oder in die falsche Richtung fliegt. Und wir haben keine Möglichkeit, ihr das klarzumachen. Deshalb können wir sie nicht fliegen lassen.«
Sie wandte sich ihm endlich zu und sah ihn träge blinzelnd an. Es fiel ihr schwer, sich auf ihre eigenen Worte zu konzentrieren. »Ihr glaubt … Ihr glaubt, ich könnte ihr das beibringen?«
»Wenn sie Euch annimmt.«
»Und wenn nicht?«, wollte sie wissen. »Was dann?«
Sie sah, wie er zögerte; vielleicht fragte er sich, ob er sie belügen sollte. »Dann wird sie Euch verschlingen«, sagte er schließlich. So ruhig und gelassen, als wäre das ganze Abenteuer etwas vollkommen Vernünftiges. »Wie Eure Vorgängerinnen.«
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Ihr sagtet doch, ich wäre die Erste .«
»Ich sagte, Ihr wärt die erste Königin «, verbesserte er. »Es gab vor Euch durchaus andere Frauen.« Wieder schaute er auf den verletzten Seelenfresser hinab. »Aber natürlich nicht für sie. Sie ist eben erst zur Reife gelangt. Bis zum dritten Entwicklungsstadium können sie keine Beziehung zu einem Menschen aufbauen, sie sehen sie nur als Futter. Deshalb konnten wir Euch erst hierherbringen, als sie so weit war.«
»Und jetzt ist sie dazu imstande? Eine Beziehung zu einem Menschen aufzubauen?«
»Wir wollen es hoffen, edle Königin.« Wieder wandte er sich ihr zu. »Wenn nicht, wird die Beziehung nur von kurzer Dauer sein.«
»Wo sind die anderen?«, wollte sie wissen. »Die anderen Seelenfresser. Was ist mit ihnen geschehen?«
Er schwieg. Unten in der Schlucht hechelte das verletzte Weibchen. Es sammelte seine Kräfte, bevor es erneut versuchen würde, auf die Beine zu kommen.
»Wenn man sie fliegen ließe, wie sie wollen«, sagte er nach einer Weile, »käme man uns bald auf die Spur. Und dafür sind wir noch nicht bereit.«
Ihr Magen rebellierte. Welcher der vielen Gräuel war schuld an ihrer Übelkeit? Das Leiden der Tiere, die Frauen, die man wie Fleisch an sie verfütterte, oder das Schicksal, auf das sie selbst sich gefasst machen musste? Im Wirrwarr ihrer Gefühle fand sich kein vernünftiger Faden, dem sie hätte folgen können. »Ihr habt dieses Weibchen in den Wahnsinn getrieben«, flüsterte sie rau. »Was also erwartet Ihr? Wenn ich an ihrer Stelle wäre, in diesem Zustand, ich würde den erstbesten Menschen, der in meine Nähe käme, in Stücke reißen. Das ist mit meinen Vorgängerinnen geschehen, nicht wahr? Ihr habt diese … diese Wesen zu tobenden Bestien gemacht, und sie sind in ihrer Wut über jeden Menschen hergefallen, den sie zu fassen bekamen.« Sie hörte selbst, wie ihre Stimme immer zorniger wurde. Der Zorn war stärker als die Angst, und so hieß sie ihn dankbar willkommen. »Und dann habt Ihr die bedauernswerten Kreaturen getötet, weil sie Eure Erwartungen nicht erfüllten. Und das Ganze fing wieder von vorne an. Wie viele sollen noch sterben?«,
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