Die Seherin der Kelten
Cunomar aus gesehen - gegenüberliegenden Ecke der Dunkelheit ein dumpfer Schlag zu hören und dann ein kurzer, herzhafter Fluch, der sofort wieder zurückgenommen wurde.
Mit gepresster Stimme rief Eneit: »Cunomar, ich glaube, wir sollten wieder gehen.« Er hörte sich an, als ob er kurz davor wäre, in Tränen auszubrechen, und so etwas hatte es bei Eneit noch nie gegeben. Selbst unter den zornigen Strafpredigten seiner Mutter weinte Eneit nie.
»Bleib, wo du bist«, erwiderte Cunomar. »Ich komme zu dir.«
Er suchte nicht mehr länger nach Spalten oder Nischen im Fels, sondern konzentrierte sich nur noch darauf, sich Schritt für Schritt vorzutasten. Zuerst glitt er dabei noch mit ausgestreckter Hand über die Wand. Ein zweiter umherhuschender und über seine Fingerspitzen streifender Schatten ließ ihn den Arm dann aber hastig wieder zurückziehen, und von da an hielt er ihn fest an seine Seite gedrückt.
Der Innenraum des Hügelgrabes war kleiner als der Durchmesser von Airmids Hütte auf Mona und hatte, so dachte Cunomar, wahrscheinlich auch weniger gefahrvolle Momente erlebt. Denn er hatte die Geschichte von Lythas gehört - dem Verräter vom Stamme der Briganter, der versucht hatte, die Bodicea in Cartimanduas Lager zu locken -, und was die Träumer ihm anschließend angetan hatten. Natürlich hatte man das Grauen mit der Erzählung ein wenig übertrieben, und doch hatte sich Cunomar, nachdem er sie gehört hatte, nie mehr ganz so in Airmids Steinkate gefühlt wie zuvor.
An diesem noch kleineren, noch älteren und noch weniger ansprechenden Ort erforderte somit jeder weitere Schritt, den er machte, seine ganze Willenskraft und führte ihn immer dichter an den Rand der Panik. Während all der praktischen Unterrichtsstunden im Verfolgen von Feinden, die Ardacos ihm erteilt hatte, und selbst während der Reise in den Osten, als sie zuweilen nur einen knappen Steinwurf von den Legionären entfernt gewesen waren, hatte sein Herz doch niemals so gerast oder so hart gegen seinen Brustkorb gehämmert wie jetzt. Sein Körper erbebte förmlich unter dem Trommeln in seiner Brust, und Schweiß rann über sein Gesicht und lief in Rinnsalen auf seine Schultern hinab. Cunomar fühlte sich, als ob er auf dem Boden eines Sees durch das Wasser pflügte und riesige Fische sich ihm näherten, ihn jagten; oder als ob er flach auf dem Bauch durch Dunkelheit und Nebel kröche und Schlangen über seine nackte Haut glitten. Er spürte, wie Daumen ihm auf die Augäpfel pressten, sie zerdrückten, und wie Bestien mit menschlichen Händen und den reißzahnbewehrten Schnauzen von Bären seine langen Knochen zersplitterten und das Mark verschlangen, und er dachte, seine Füße wären von Wurzeln umfangen fest mit dem Boden verwachsen, so dass jeder Fluchtversuch aussichtslos war.
»Cunomar?« Ein fast tonloses Flüstern.
»Ja?«
»Wo bist du?«
»Hier.«
»Du gehst in die falsche Richtung.«
»Nein. Ich komme von links.«
»Dann bist du stehen geblieben. Mittlerweile hättest du mich erreichen müssen. Das Grab ist schließlich nicht so groß.«
Die Dunkelheit verschluckte Cunomar. Die Fische und die Schlangen und die Bären saugten allesamt an seiner Seele. In blinder Todesangst starrte Cunomar in die Finsternis, und zum ersten Mal in seinem Leben erflehte er Hilfe und Erlösung von Nemain. Unerwarteterweise, verblüffenderweise, wundersamerweise blickte ihm aus der widerhallenden Schwärze der Grabkammer Graine entgegen. Ihre großen, ernsten Augen musterten sein Gesicht, suchten nach einer Erklärung und fanden sie schließlich. Mit dem für sie so typischen, scheuen Lächeln sagte sie: Tritt von der Wand fort. Suche das Licht. Du gehörst zu Belin, der die Sonne ist. Er wird dich beschützen.
Cunomar trat einen halben Schritt zurück. Wie ein Heiligenschein umstrahlte ihn das Licht. Widerstrebend entließ das Grauen ihn aus seinen Fängen. »Eneit...«
»Was?«
»Tritt zurück. Berühr nicht die Wand. Komm zurück zu mir in das Licht.«
Sprachlos trafen sie in der Mitte des Grabes aufeinander. Eneits Haut hatte einen kränklichen, grauen Ton angenommen, und sein Atem ging nur noch in kurzen, keuchenden Zügen, als ob er zu schnell zu weit gerannt wäre. Cunomar blickte auf seine Hand hinab und musste feststellen, dass sie noch schlimmer zitterte als die von Kaiser Claudius, der immerhin die Schüttellähmung gehabt hatte und das Zittern somit nicht kontrollieren konnte. Anschließend sah er zu der etwa eine
Weitere Kostenlose Bücher