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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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Speerlänge über seinem Kopf befindlichen Öffnung in der Grabdecke empor. Er wusste, wenn er nun in Panik geriet, würde er dort niemals mehr herauskommen. So stellte er sich breitbeinig hin und verschränkte seine Finger.
    »Tritt in meine Hände, als ob du auf ein Pferd steigen wolltest«, sagte er. »Dann kannst du den Rand des Lochs erreichen und dich hochziehen.«
    »Und was wirst du machen?«
    »Ich bin größer. Ich werde hochspringen.«
    Er hatte versucht, seine Stimme so fest und energisch klingen zu lassen wie die seiner Mutter vor einer Schlacht. Und auch wenn Cunomar dies vielleicht nicht so ganz gelungen sein mochte, tat sein Freund doch, worum er ihn gebeten hatte, ohne erst noch Fragen zu stellen, und schon glitten die Füße des älteren Jungen durch die Öffnung hindurch und ins Licht. Nach einer kurzen Pause erschien sein Kopf wieder in dem Loch. »Ich bin in Sicherheit. Meinst du denn wirklich, dass du so hoch springen kannst?«
    »Nein, aber ich kann es zumindest versuchen. Falls ich es nicht schaffe, kannst du ja immer noch ein Seil holen.«
    »Und dich da drin allein zurücklassen? Willst du denn wahnsinnig werden, oder bist du es vielleicht sogar schon?«
    »Weder noch. Und darum werde ich es auch schaffen.« Cunomar hörte, wie in seiner eigenen Stimme plötzlich der Schatten seines Vaters widerhallte, und jener winzige Teil von ihm, der noch nicht in Todesangst versetzt worden war, empfand einen kurzen Augenblick der Ekstase.
    Mit einem Gebet an Belin, so wie seine Schwester es ihm befohlen hatte, sprang Cunomar, Sohn zweier Krieger, hinauf und fühlte, wie seine Finger Halt an dem abgerundeten Stein fanden und wie die von Eneit sich um seine Handgelenke schlossen. Der quälende Kampf hinauf kostete ihn an den Oberschenkeln und den Schienbeinen zwar jeweils etwas Haut, aber noch niemals zuvor war er so froh gewesen, wieder Licht zu erblicken. Später, als sie auf festem Gras und in der Sonne lagen und befreit von allen Albträumen waren, hielt Cunomar erneut nach dem Bussard Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken. Nachdenklich sagte er: »Langsam verstehe ich, warum wir das Lied der Seele des Speers erkennen müssen. Es war der Klang meiner eigenen Stimme, der mich langsam verrückt gemacht hatte. Wenn ich unten im Grabhügel nur die Ruhe bewahrt hätte, wäre ich geschützt gewesen.«
    »Vielleicht geschützter. Doch genau das ist es ja, was die Träumer bereits wissen - und was wir erst noch lernen müssen. Aber wir haben ja noch Zeit. Vor Mittsommer werden die Ältesten uns nicht in unsere langen Nächte in der Einsamkeit schicken.«
    »Wenn sie uns die Prüfungen denn überhaupt ablegen lassen.«
    Keiner von beiden hatte es sonderlich eilig, zur Siedlung zurückzukehren. Sie lagen einfach nur still da, ein jeder damit beschäftigt, sich erst einmal von dem Erlebnis zu erholen. Nach einer Weile sagte Eneit nachdenklich: »Ich denke, wir sind auch mit den falschen Absichten in das Grab gestiegen, und das haben sie gespürt. Ich war nicht ehrlich, und das tut mir Leid. Ich wollte ein Geschenk für dich finden, das dir etwas bedeutet.«
    »Das weiß ich.«
    »Ich wollte, dass du eine gute Meinung von mir hast.«
    Cunomar rollte sich auf den Bauch. »Aber ich habe doch eine gute Meinung von dir, Eneit.«
    »Aber du hast mich doch als Feigling kennen gelernt. Ich bin aus dem Grabhügel geflohen, ehe du dein Schwert gefunden hast.«
    »Nein. Ich habe dich als ehrlich kennen gelernt, als beständig und verlässlich und von außergewöhnlichem Mut. Du wusstest, wie es sein würde, trotzdem bist du reingegangen. Ich jedenfalls würde da niemals mehr runtersteigen, und wenn es der einzige Ort auf der ganzen Welt wäre, an dem ich noch mein Schwert finden könnte. Du besitzt den Mut eines Träumers. Ich könnte da niemals auch nur im Entferntesten heranreichen.«
    Cunomar legte das Kinn auf die Hand und hob den Kopf, so dass er Eneit direkt in die Augen blicken konnte. Er spürte eine Sicherheit und eine Gewissheit aus sich selbst und aus der Welt erwachsen, die ihm neu war und die schöner war, als sich in Worte fassen ließ. Er hatte Prüfungen bestehen müssen, die bis in den Kern seines Wesens reichten, und er war zufrieden mit den Ergebnissen. Zwischen ihm und Eneit war plötzlich alles und zugleich auch nichts ganz anders, und trotzdem waren sie noch immer Freunde. Mit vollkommener Aufrichtigkeit sagte er: »Wenn wir uns in einer Schlacht befänden, dann gäbe es niemanden, den ich mir

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