Die Seherin der Kelten
einmal ihre erste Frage an ihn gewesen wäre. Sein eines, gesundes Auge strahlte sogar förmlich, und aufmerksam blickte er sich damit um. Er versuchte ein Lächeln, und trotz seiner offensichtlichen Schmerzen dabei ließ er es nicht wieder verblassen. Breaca benutzte ihren Körper wie einen Schild, so dass keiner der Zuschauer, egal, ob Römer oder Mitglied der Stämme, sehen konnte, wie sie auf Eneits Stirn, sein Brustbein und auf die Stelle unter seinem Bauchnabel ihre persönliche Version des Schlangenspeers zeichnete. Sie malte die Zeichen langsam, mit ganz bewusstem Zeremoniell, und gab Eneit damit Zeit, seinen Kopf zu leeren.
Während sie das erste der drei Zeichen malte, erklärte er: »Ich bin noch einmal zum Grabhügel der Ahnen zurückgegangen. Das war ein Fehler. Ich wurde von einem Fährtenleser der Coritani beobachtet, der die Sache sofort meldete. Die Legionäre haben Sinochos’ Klinge an sich genommen und sie zerbrochen. Es tut mir Leid.«
»Das darf dir nicht Leid tun. Klingen kann man wieder reparieren. Du bist es, den wir nicht wieder zusammenschmieden können, und das tut uns allen mehr als Leid. Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, dich zu befreien, würden wir diese Möglichkeit sofort ergreifen, das schwöre ich.« Breaca malte das zweite Zeichen.
»Ich weiß. Und auch meine Mutter weiß das. Sie hatte mir stets gesagt, dass der Tag, an dem ich eine Waffe mit einer Schneide in die Hand nehmen würde, jener Tag wäre, an dem ich stürbe. Ich hatte also immer gedacht, ich würde in einer Schlacht sterben.«
»Aber das stimmt doch auch. Außerdem hast du nicht nur einen, sondern sogar zwei von ihnen getötet. Dein Leben wird also doppelt aufgewogen, wenn du zu den Göttern eingehst. Viele, die ebenfalls in einer Schlacht sterben, können das nicht von sich behaupten. Und nur Krieger, die sich bereits im Kampf als solche bewiesen haben, dürfen an der Speerprüfung der Bärinnenkrieger teilnehmen, wusstest du das überhaupt?«
Freudig blitzte Eneits unverletztes Auge auf. »Das hatte ich gehofft. Nehme ich eine Nachricht mit zu den Göttern hinauf?«
»Bitte sie, über uns zu wachen, wenn die letzte Schlacht beginnt. Dann brauchen wir ihre Hilfe dringender denn jemals zuvor.«
Schließlich war auch das dritte Zeichen vollendet. Sie hatte alles in ihrer Macht Stehende getan. Einer plötzlichen Eingebung folgend - ihre Geste stand in keinerlei Zusammenhang mit den Riten, die sie jemals miterlebt hatte -, nahm Breaca den Jungen bei den Schultern und hauchte ihm vorsichtig und mit Rücksicht auf seine Verletzungen einen Kuss auf die Stirn. Unter ihrer Berührung ging ein Schaudern durch seinen Körper, doch es war kein Schaudern des Schmerzes.
Mit belegter Stimme sprach Eneit: »Bitte sag meiner Mutter, dass es mir zwar Leid tut, dass ich sie verletzt habe, dass ich es aber keinesfalls bereue, den Feind in einer Schlacht getötet zu haben. Und sag Cunomar...« Er stockte, konnte nicht mehr weitersprechen.
»Ich werde ihm sagen, dass du ihn liebst. Aber das weiß er ohnehin schon. Und auch du wirst wissen, was er für dich empfindet.« Bis zu diesem Augenblick hatte Breaca noch nichts von der wahren Tiefe der Gefühle der beiden Jungen füreinander gewusst; und hätte es doch wissen müssen. Dies Versäumnis schmerzte sie.
Eneit lächelte. »Ja, das weiß ich. Danke. Bitte richte ihm von mir aus, dass er den Mut finden muss, auch über den heutigen Tag hinaus weiterzuleben, dass ich ihn von dem Land jenseits des Lebens aus beobachten werde und so lange warte, bis ich ihn an jenem Ort wieder begrüßen darf, an dem ein Jahr so rasch vergeht wie ein Herzschlag.«
»An dem Ort ohne Zeit dauert ein Herzschlag aber zugleich auch eine Ewigkeit.«
»Auch das weiß ich. Aber bitte sag das nicht Cunomar. Er ist so ungeduldig. Erinnere ihn lieber an die Bedeutung meines Namens und sag ihm, er soll ihn an seinen Sohn weitergeben, so er denn einen bekommen sollte.«
Eneits Name bedeutete so viel wie »Mut«, und der Junge bewies tatsächlich ungeheuer viel Courage und eine bewundernswerte Tapferkeit. Er weinte nicht und versank auch nicht in Selbstmitleid. Breaca hatte schon gesehen, wie gestandene Krieger von wesentlich weniger Mut beseelt in eine Schlacht geritten waren. Noch im Weggehen sagte sie Eneit dies, und das Strahlen seines breiten, trägen Lächelns schien selbst die letzten Sitzreihen noch hell aufleuchten zu lassen.
Langsam ging Breaca die vorgeschriebenen dreißig Schritte wieder
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