Die Seherin der Kelten
zurück, gab dem Jungen damit Zeit, noch einmal jenseits von Trauer und Verlust die Sonne und den letzten, verstreichenden Augenblick seines Lebens zu genießen. Er schien keine Schmerzen mehr zu spüren, als sie ihn verließ, und auch das Zittern hatte aufgehört. Er sah, so dachte Breaca in diesem Moment, bereits Briga, die begleitet von ihren Raben in Bahnen um ihn herumschwebte. Es gab keinen schöneren Anblick für jemanden, der in eine Schlacht eintrat.
Zwischenzeitlich hatte man Breacas Geschenk an den Gouverneur vom Tisch neben der Bühne geholt und die Speere so ausgebreitet, dass ihre Spitzen auf dem Rand der Kiste ruhten und die stumpfen Enden der Speerhefte sich in den Sand schmiegten. Die unbehandelten Reiherfedern hingen locker herab und drehten sich leicht in der Brise. Allein die unterschiedlichen Farben ihrer Heftenden unterschieden die Speere voneinander.
Der Gouverneur hatte sich bereits jenen Speer genommen, dessen Ende aus dem hellsten Holz gefertigt war und von allen dreien am ehesten an die Farbe des Goldes erinnerte. Er stand neben dem Speer und legte sowohl seinen Umhang ab als auch den vergoldeten Kürass. Ein anderer Mann hätte nun womöglich nackt ausgesehen; nicht jedoch der Gouverneur. »Habt Ihr schon jemals einen Speer dieser Machart geschleudert?«, fragte er.
»Nein. Es ist uns nicht erlaubt, einen solchen Speer aufzunehmen, ausgenommen unter der Anleitung eines Träumers. Und man kann auch nur ein einziges Mal mit ihnen werfen, dann zerbrechen sie. Ich habe sie also nur geschmiedet, nicht ausprobiert. Eine solche Unvollkommenheit hätte ich Euch nicht zu unterbreiten gewagt.«
»Ich entschuldige mich. Ich wollte Euch nicht beleidigen.«
»Ich habe Eure Äußerung auch nicht als Beleidigung empfunden. Der Wind kommt aus Südwesten, wird aber vom Bogen des Theaters eingefangen, so dass es im mittleren Bereich zu Turbulenzen kommt. Wie Corvus schon sagte, die großen Speerklingen und die von ihnen herabhängenden Federn lassen diese Speere jeglichem Luftzug gegenüber sehr empfindlich werden. Von allen Waffen sind sie diejenigen, die am schwierigsten zu werfen sind. Um einen guten Wurf zu erzielen, muss man zuvor das Lied der Speerseele vernommen haben.«
»Ich stehe in Eurer Schuld.« Er wies mit einer knappen Kopfbewegung zu den Speeren hinüber. »Wollen wir?«
Mit der tief stehenden Sonne im Rücken nahmen Breaca und der Gouverneur ihre Speere auf, und lang streckten sich ihre Schatten über den Sand. Die Wachen waren entlassen worden und warteten nun mit einem Schild - auf dem sie später die Leiche forttragen sollten - im hinteren Bereich der Bühne. Breaca und der Gouverneur waren somit allein, bis auf Eneit, der jedoch dreißig Schritte von ihnen entfernt stand. »Irgendjemand Neutrales, der kein Angehöriger unserer Stämme ist, sollte das Zeichen zum Werfen geben«, sagte Breaca. »Dürfte ich Theophilus von Athen vorschlagen?«
»Einen Mann, der dafür bekannt ist, dass seine Zuneigung beiden Seiten gilt? Ja, das ist eine gute Wahl.«
Quintus Veranius gab ein Zeichen. Nach einem Augenblick der Verwirrung gesellte der Arzt sich zu ihnen. Es gefiel ihm offenbar nicht schlecht, eine kleine Rolle in dem gerade stattfindenden Stück spielen zu dürfen. Eine zarte Röte wärmte seine Wangen und die Flügel seiner Nase. Sorgsam darum bemüht, dass man ihn nicht lächeln sah, fragte er: »Gibt es ein Zeichen, nach dem ich Ausschau halten sollte?«
»Ja«, erwiderte Breaca. »Aber das kennt nur Ihr. Ich dagegen weiß nicht, wie es aussieht.«
»Natürlich. Ihr dürft ja nicht im Vorteil sein.« Er war ein Mann, der es gewohnt war, der Stimme der Erde zu lauschen, wenn nicht sogar der Stimme der Götter, und es beunruhigte ihn keineswegs zu wissen, dass das Leben anderer von seiner Beobachtung abhing. »Dann also hebt Eure Speere und macht Euch bereit. Ich werde Euch sagen, wann Ihr werfen sollt.«
Breaca hatte sich für den dunkelsten der drei Speere entschieden. Er war gesegnet von Nemain, der Göttin der Nacht, die sowohl Graine als auch Airmid führte. Breaca hob ihren Speer bis auf Schulterhöhe und wandte sich dann um, um Eneit anzublicken. Der Gouverneur tat es ihr nach. Stille umfing sie. In einer Welt, in der die Zeit in einem Herzschlag verstrich und zugleich eine ganze Ewigkeit umfasste, warteten sie.
Die gesamte Menge der Zuschauer hätte an Breaca vorbeidefilieren und durch Vieh oder Krähen ersetzt werden können, und Breaca hätte doch nicht das Geringste
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