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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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davon bemerkt. Ihre Welt bestand nur noch aus Eneit, dem Wind und dem gestochen scharfen, immer wieder seine Länge verändernden Schatten des Reiherspeers und der von ihm herabbaumelnden Feder. Die Muskeln ihres Wurfarms brannten. Doch der Schmerz lebte außerhalb ihres Bewusstseins und war nicht wichtig. Eneit schrumpfte zusammen, bis er nur noch aus einem in seinem Brustkorb gefangenen, klopfenden Herzen zu bestehen schien. Er schwankte, Breaca schwankte mit ihm. Auf jeder seiner Schultern ließ sich ein Rabe nieder, und Breaca wusste, er sah die Welt nicht mehr, wie andere sie sahen. Sie atmete langsamer, wurde ganz ruhig, und allein der Schlag ihres Herzens ließ die Speerspitze noch leicht erbeben. Das Lied des Speers hüllte sie ein, volltönend und erfüllt von Mondlicht und den Freuden und Schmerzen der Mutterschaft, erfüllt von dem lockenden Flüstern der Ahnenträumerin und der Götter, als sie …
    » Werft!«
    Das Wort traf Breacas Seele, so wie ein Hammer auf einen Amboss prallt, und ließ den Schmerz des Liedes frei. Ihr Arm bewegte sich wie aus eigenem Antrieb. Der Speer summte und flog, als ob er von einem außerhalb Breacas existierenden Willen gelenkt würde. Sie beobachtete seine Flugbahn. Die Zeit schien sich plötzlich endlos auszudehnen, die Luft schien dick wie Blut geworden zu sein und verlangsamte den Flug des Speeres. Der im Kreis wirbelnde Wind in der Mitte des Halbrunds erfasste die Klinge und zog sie schließlich hinunter; Breaca hatte dies erwartet und folglich bewusst hoch gezielt.
    Die Speerspitze legte sich auf eine Linie, die genau auf Eneits Herz zuführte - Erleichterung durchströmte Breaca, doch zu früh. Schweiß schien ihre vormals noch trockenen Handflächen wie mit Öl zu überziehen. Ganz am Rande ihres Bewusstseins bemerkte sie, dass ein Seufzer durch die Menge ging. Der zweite Speer holte Breacas Speer ein. Plötzlich flogen sie parallel zueinander, drängten sich in die gleiche Flugbahn. Breaca blinzelte einmal, und die beiden Speere verschmolzen zu einem, wurden wieder zwei, schienen erneut wie ein Speer, wie sein Speer, wie ihr Speer, wie Breacas Speer, und wurden wieder zum Speer des Gouverneurs. Endlich grub er sich in Haut. Ob es nun aber letztlich der eine oder der andere war - Breaca wusste es nicht. Die spitz zulaufende Klinge drang sauber zwischen Eneits Rippen hindurch, veränderte auch im Aufprall kaum ihren Winkel, und in einem letzten, von außergewöhnlichem Mut zeugenden Akt tat Eneit noch einen Atemzug, hielt seine Lungen somit selbst im Tode offen. Mit überschwänglichem Jubel verstummte das Lied des Speers, und aller Schmerz und alle Freude vereinten sich in Breaca.
    Sie spürte den Speerstoß in Eneits Herz, als ob ihr eigenes getroffen worden wäre, und sah, wie der dritte von Brigas Raben sich auf dem Jungen niederließ. Plötzlich wich Eneit ruckartig zurück und ein wenig nach rechts hinüber. Der zweite Speer, der genau auf die Mitte seiner Brust gerichtet worden war, traf auf eine Rippe und rutschte leicht nach außen hin ab, bis auch er schließlich das Fleisch durchbohrte. Allein seine Willensstärke hielt den Jungen noch einen letzten Augenblick lang aufrecht, ehe er taumelte und dann rückwärts in den Sand stürzte. Nur ein Einziger aus dem Publikum schrie voller Bewunderung auf und wurde sofort wieder zum Schweigen gebracht.
    Die Hitze des Wartens sog die Luft aus Breacas Lungen heraus. Mit gerötetem Gesicht und atemlos sagte der Gouverneur: »Er ist tot. Noch nie in meinem Leben habe ich einen Speer mit mehr Inbrunst geworfen, aber ich könnte nicht sagen, welcher Speer mehr in der Mitte sitzt. Theophilus, als unser Schiedsrichter und als unser Arzt, verratet Ihr uns, welcher der beiden Speere den Tod hervorrief?«
    »Ich werde es versuchen. Ihr solltet mit mir kommen. Wenn Ihr hier wartet, fällt die Antwort auch nicht anders aus.«
    Eneit lag auf dem Rücken, die offenen, blicklosen Augen der Sonne zugewandt. Die Speere ragten senkrecht aus seinem Körper heraus, und ihre Hefte erbebten leicht unter den allerletzten Schlägen eines zweifach durchbohrten Herzens. Die Klingen steckten auf leicht unterschiedlicher Höhe und eine Handbreit voneinander entfernt in der Brust des Jungen; der hellere von beiden Speeren saß etwas höher im Brustkasten als der dunklere.
    Theophilus, der sich nicht niederknien und damit die Würde seines Amtes schmälern wollte, beugte sich über die Speere und musterte sie eine Weile. Schließlich verkündete

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