Die Seherin der Kelten
im Namen von allem, das uns beiden heilig ist, dass ich keine Ahnung hatte, dass diese Speere, die ich als Geschenk für Euch geschmiedet hatte, heute gegen ein Mitglied meines eigenen Stammes verwendet würden. Hätte meine Tochter es nicht soeben erwähnt, hätte ich mich ohnehin nicht mehr daran erinnert, dass diese Speerprüfung einst existierte. Das ist eine Sache, von der wir zwar in unseren Sagen berichten, die wir jedoch nicht mehr praktizieren. Die Speerprüfung fand nur noch in den Zeiten unserer Ahnen statt, und auch dann nur selten; von den jetzt noch Lebenden, und auch den vorausgegangenen drei Generationen, hat sich niemand mehr dieser Prüfung unterzogen, zumindest meines Wissens nach. Wenn der Gouverneur uns also die Ehre erweisen würde, die Speerprüfung heute stattfinden zu lassen, würde er damit eine unserer ältesten Zeremonien wieder zum Leben erwecken.«
Sie hob ihre Stimme während dieses letzten Satzes zwar nur ein wenig an, doch der Effekt war enorm. Breacas Worte schallten nach hinten bis zu den rückwärtigen Wänden des Theaters und wogten von dort durch das gesamte Halbrund der Sitzreihen. Schemenhaft stiegen in den Erinnerungen jener Männer und Frauen der Stämme, die noch in Freiheit geboren worden waren, wieder die Sagen ihrer Großmütter auf. Nur wenige, wenn überhaupt, wussten von den genaueren Vorgaben dieser Zeremonie, die einst von einem der im weit entfernten Norden lebenden Stämme praktiziert worden war; obgleich die etwas Scharfsinnigeren, die zudem mit dem Kodex der Bärinnenkrieger vertraut waren, sich dies durchaus denken konnten.
Der Gouverneur von Britannien jedenfalls war einer der scharfsinnigsten Männer seiner gesamten Generation und fragte folglich: »Aber haben denn tatsächlich jemals die Zeremonienrichter selbst an der Prüfung teilgenommen? Oder übernahmen diese Aufgabe nicht vielmehr die von ihnen zuvor erwählten Stammesbesten?«
»Beides ist möglich. Die Entscheidung darüber fällten die Träumer und die Götter. Und alle drei Teilnehmer wurden durch das Los bestimmt.«
»Also war derjenige, der zum Sterben bestimmt wurde, nicht zwangsläufig ein Gefangener oder ein Gesetzesbrecher?«
»Nicht immer. Denn sowohl dem zum Tode Verurteilten als auch den beiden Speerwerfern wurde mit ihrer Aufgabe große Ehre zuteil. Derjenige, der zuerst starb, trug bei seinem Tode die Botschaften beider Stämme mit zu den Göttern hinauf. Und die Art und Weise, wie er seinem eigenen Tod entgegenschritt, bildete das Maß, anhand dessen auch die Würde der beiden anderen Teilnehmer bestimmt wurde.«
Breaca sprach wie automatisch, dachte über ihre Worte schon gar nicht mehr nach. Ihre Aufmerksamkeit war fast ausschließlich auf Cunomar gerichtet, der seinen Kampf gegen Graine mittlerweile aufgegeben hatte und nun kerzengerade auf seinem Platz saß. In den nachmittäglichen Schatten schien seine ohnehin schon helle Haut geradezu kalkweiß, und seine Augen wirkten riesengroß und schwarz.
Mit einer verkrampften, gepresst klingenden Stimme, die Breaca noch niemals zuvor von ihrem Sohn gehört hatte und doch sofort erkannte, sagte er: »Wenn es also so sein soll, dann lasst mich derjenige sein, der für die Eceni wirft.«
Doch er hatte nicht das Seelenlied seines Speeres gehört, als er diesen das erste Mal geworfen hatte; wusste nicht, was dieser Mangel eigentlich bedeutete. Eneit aber wusste es nur zu gut. Die Warnung auf seinem Gesicht war trotz seines übel lädierten Auges und der Schnittwunden nicht zu übersehen. Cunomar zog es jedoch vor, sie zu ignorieren, und Breaca konnte ihm dies nun auch nicht in aller Öffentlichkeit erklären. Die Augen ihres Sohnes schienen sie regelrecht auszusaugen, ebenso wie das Strahlen seiner Seele und der verzweifelte Mut, den er aufgebracht hatte, um seine Bitte an diesem Ort und im Beisein all dieser Menschen vorzubringen. Sie wurde aufgesogen von seiner Überzeugung, zu siegen. Und an dieser Zuversicht zerschellte ihr Herz, an seinem Stolz und seiner Unwissenheit und dem Preis, den sie alle für seine sichere Niederlage noch würden zahlen müssen. Denn gefangen in einer wahren Flutwelle des Schmerzes hatte er den Weg, den das Schicksal eines Kriegers nehmen würde, der bei dieser Prüfung versagte, nicht ganz zu Ende gedacht.
Der Gouverneur wartete, sein Gesichtsausdruck ein Muster an beherrschter Neugier. Cunomar hatte auf Eceni gesprochen, was Quintus Veranius wiederum mit großer Wahrscheinlichkeit verstanden hatte,
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